Theater und Integration: Geschichten, die man erzählen muss
Erinnerungen teilen gehört zur Arbeit am Bild dessen, wer wir sein wollen. Die Münchner Kammerspiele widmen sich dem mit einem Festival.
Erinnerungsvermittlung ist schwer: Allzu leicht droht der Vorwurf, rückwärts zu agieren. Aber wo Zeitzeugen nicht länger Teil der Gegenwart sind, drohen die Stimmen zu verstummen. Die Münchner Kammerspiele spannen über die Winterspielzeit deshalb ein siebenwöchiges Festival, „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“.
Es sucht nach einer Sprache und Ästhetik der gemeinsamen Erinnerung für die Zukunft. Programmatisch wird die Frage aufgeworfen, was „verschiedene künstlerische Strategien und Formsprachen zur Erinnerungsarbeit beitragen“ können.
Noch bis Dezember holt das Festival verschiedene Premieren, Lesungen und Diskussionsrunden ins Schauspielhaus, aber auch an den Stadtrand von München, in das ehemalige Konzentrationslager Dachau, oder nach Neuperlach, jenem Plattenbauviertel, das nach Münchner Maßstäben als sozialer Brennpunkt gilt und das eine vergleichsweise schlechte Stadtintegration und höhere Kriminalitätsrate aufweist.
Das Festival begann mit der Uraufführung „Hungry Ghosts“ (Regie: Anna Smolar) über verdrängte Signale einer rumorenden Vergangenheit und geht bis zur Premiere von „L7L – Die Sieben Irren“ (Regie: Alejandro Tantanian), nach einem argentischen Klassiker über Verschwörungstheorien.
Vielfalt der Gesellschaft
„Es gibt verschiedene Dimensionen der Vielfalt der Gesellschaft“, erklärt Initiator Martín Valdés-Stauber.
„Natürlich gibt es da Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund, körperliche und geistige Dimensionen von Vielfalt – all das kann man erst mal in den Blick nehmen. Wenn wir uns von einer weiß-männlich geprägten, deutsch-deutschen Geschichtserzählung von gesunden Körpern entfernen, können wir anfangen, uns zu fragen, was noch eine Rolle in unserer heutigen Gegenwart spielt, und wer demnach einbezogen werden muss in die Erinnerungsarbeit und in die Selbstbeschreibung unserer heutigen Gesellschaft.“
Einige der Inszenierungen verzichten bewusst auf künstlerische Überhöhung. Dramatisch bebilderten Fake News oder spektakulären Deepfakes aus den sozialen Medien wird die Langsamkeit der Authentizität entgegengesetzt. Der Zuschauer muss sich gleichermaßen einlassen wie anstrengen, etwa, wenn er einer Lesung von KZ-Zeitzeugenberichten folgt.
Andere Beiträge setzen den Schwerpunkt auf die Inszenierung, denn: „Künstlerische Mittel haben viel beizutragen zur Erinnerungsarbeit. Das ist nicht nur eine intellektuelle Aufgabe oder eine ritualisierte“, so Valdés-Stauber: „Es ist nicht Sinn der Sache, dass die immergleichen Leute zu den immerselben Veranstaltungen auftauchen. Theater kann die Zielgruppe erweitern, die Erinnerung schmerzvoll und sinnlich machen.“
Neonlicht und Lärm
Zu einer dieser Produktionen zählt „Das Erbe“ (Text: Nuran David Calis) in der Inszenierung von Pınar Karabulut. Das Stück lebt in München von Neonlicht und Lärm, von Filmelementen und Trockennebel. Hier finden Tanzelemente und Choreografien genauso ihren Platz wie türkische Übertitel und große Gesten, ein Kniefall etwa, eine Ohnmacht, ein weinender Zusammenbruch.
Erzählt wird die Geschichte der Familie Doğan, die in Deutschland ein Familienunternehmen aufgebaut hat. Die drei Kinder – Leyla, Arzu und Halil – ringen mit dem Erbe des Vaters, das zugleich mit ihrer Haltung zu ihrem Heimatland Deutschland eng verwoben ist: Sollen sie seine Firma zerschlagen und in die Türkei zurückgehen, oder den Willen des Vaters und der Mutter respektieren und in Deutschland bleiben?
Die Rahmenhandlung bildet der 30. Jahrestag der Brandanschläge von Mölln, bei denen ein rassistisch motiviertes Verbrechen mehrere Menschen zu Hinterbliebenen macht. In der Nacht zum 23. November 1992 hatten zwei Neonazis Brandsätze auf von türkischen Familien bewohnte Häuser geworfen.
Die 51-jährige Bahide Arslan und ihre 10- und 14-jährigen Enkelinnen wurden ermordet, ihre Tochter rettete sich mit einem Sprung aus dem Fenster, den achtmonatigen Säugling an die Brust gedrückt. Sie erlitt einen Beckenbruch. Ein Enkel überlebte im Inferno, weil ihn seine Großmutter vor ihrem Tod noch in nasse Bettlaken gewickelt und im Bad eingesperrt hatte. Insgesamt neun Menschen wurden schwer verletzt.
Keine Lust auf ein Integrationswunder
Hausregisseurin Pınar Karabulut interpretiert ihre Figuren radikal, teils – im Falle des Handyproduzenten Halil – klamaukig und unterhaltsam, teils – im Falle der konservativen Leyla – zerrissen, aber auch facettenreich. Sie greift sich den Text angstfrei und zerlegt ihn in exemplarische Fragmente.
Leyla etwa hat in Yale und Istanbul Religionswissenschaften studiert, einen Mann und zwei Kinder – ist es aber leid, ein Leben als „Integrationswunder“ zu führen. Ihre Schwester Arzu ist lesbisch, was sie ihrem Vater nie eingestehen konnte, und führt als Kunsthistorikerin eine eigene Galerie.
Halil lebt im Schatten seines Vaters, der ein erfolgreicher Unternehmer war – und stellt die Frage, was es bedeute, sich einerseits „meiner Biografie zu entledigen“, die mit der Migrationserfahrung der Eltern eng verwoben ist, und sich andererseits von einem Land zu distanzieren, das „nur Dankbarkeit“ von ihm erwarte.
„Welche Erzählungen brauchen wir zur Anreicherung des deutschen Geschichtsverständnisses, weil sie einfach der Realität der Menschen unter uns entsprechen?“, fragt Valdés-Stauber. Die Antwort gibt Karabulut in einem furiosen Finale: „Unsere Geschichten müssen jetzt erzählt werden“, ruft ihre Besetzung im letzten Bild, appellativ, dringlich, und unmissverständlich. Denn jetzt ist der Zeitpunkt, ihnen zuzuhören.
Die Zukunft des Zuhörens
Im Münchner Stadtteil Neuperlach steht dann die Zukunft des Zuhörens im Fokus der Gegenwart: Hier eröffnet ein integratives Theaterlabor, „ein Satellit, in einem stark migrantisch geprägten Stadtteil, der ganz anders ist als der Ort, an dem die Kammerspiele sind, um dort mit der Nachbarschaft zu arbeiten“, erklärt Valdés-Stauber. Er selbst hat eine erste Session im Klassenzimmer geleitet, und seither begeben sich Mitarbeiter der Kammerspiele jede Woche nach Neuperlach, um mit Schulklassen zu arbeiten.
Im Mittelpunkt steht anfangs die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Shoa und eigenen Familien- und Rassismuserfahrungen. In einem zweiten Schritt werden Szenen entwickelt, die in einem dritten zu einer Gesamtpräsentation verschmolzen werden. Etwa sieben Schüler sollen bis Februar kommenden Jahres ein Stück unter dem Titel „Time Busters“ entwickeln, das stärker auf ästhetische und poetische Mittel der Erinnerungskultur zurückgreift.
„Kultur kann eine integrierende Funktion haben, aber natürlich liegt es in unserer Verantwortung als Kulturschaffende und Künstler:innen, dafür zu sorgen, dass sie die hat“, glaubt Valdés-Stauber. „Theater ist nur integrierend, wenn es die Zuschauer:innen mitnimmt und einlädt – das machen Theater leider nicht immer.“
An den Kammerspielen nun sollen Geschichtsfragmente überspannend verhandelt werden, denn „indem wir versuchen, uns zu einigen, was unsere Vergangenheit ist, gelingt uns Vergesellschaftung in der Gegenwart.“
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