Lesungen über Erinnerungsarbeit: Mit den Stimmen der Vergangenheit

Die Gegenwart braucht die Erinnerung. Aber wie sie gelingt? In den Münchner Kammerspielen lasen drei Frauen aus Erinnerungen an Konzentrationslager.

Konzentrationslager Auschwitz

Konzentrationslager Auschwitz Birkenau Foto: Karsten Thielker

Am Anfang soll hier das Ende stehen: „Geduld, Leidenschaft und Strenge“ sind nötig, um sich auf die Erinnerung einzulassen. Es sind die letzten Worte, die an diesem Abend in München vorgelesen werden. Und sie hallen nach. Der Abend ist überschrieben mit „Ist das ein Mensch?“, einem Buchtitel von Primo Levi. Drei Persönlichkeiten der Gegenwart werden mit Erzählern der Zeitgeschichte in einen Dialog gesetzt, der Raum und Zeit überspannt. Autorin Carolin Emcke, Schauspielerin Maryam Zaree und Journalistin Lena Gorelik lesen Texte von Primo Levi, Jean Améry, Ruth Klüger, Charlotte Delbo, Imre Kertész und Jorge Semprún.

Die Veranstaltung ist Teil des Festivals „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ an den Münchner Kammerspielen. Es konfrontiert bis Mitte Dezember mit Historie und Gegenwart unterschiedlicher Faschismen. Und geht der Frage nach, welche Formen der künstlerischen Umsetzung ein Theater wählen kann, um etwa an Verbrechen zu erinnern, wie sie sich im November 1938 in Nazi-Deutschland zutrugen.

Die drei Vorleserinnen sind Profis der Erinnerungsarbeit. Carolin Emcke beschreibt in der Essaysammlung „Weil es sagbar ist“ die Versuche von Inhaftierten in Konzentrationslagern, inmitten irrationaler Verbrechen menschliche Würde zu bewahren. Lena Goreliks Eltern sind russische Juden, die Anfang der neunziger Jahre mit ihrer damals elfjährigen Tochter nach Deutschland emigrieren und zunächst in einer Flüchtlingsbaracke landen. In dem Roman „Wer wir sind“ schreibt sie 2021 darüber.

Maryam Zaree ist in Teheran geboren, im Evin-Gefängnis. Ihrer Mutter gelingt die Flucht vor dem iranischen Mullah-Regime nach Frankfurt am Main. Zaree wusste lange nichts über die Umstände ihrer Geburt. 2019 präsentierte sie als Regisseurin den Film „Born in Evin“ als Auseinandersetzung mit ihrer Biografie.

Der Handlungsspielraum? Zuhören

Die Lesung in München verzichtet nun auf jede theatralische Überhöhung. Sie fordert die Zuschauer dadurch maximal heraus. Die Bühne ist schwarz. Die Buchtitel werden eingeblendet, die Texte sind gefühlvoll, sachlich und hart. Im Bühnenraum ist es kalt, die Heizung ist heruntergedimmt. Noch kälter wird es, wenn wir die Berichte über erlittene Erniedrigungen, Schmerzen und Demütigungen vernehmen.

Carolin Emcke schickt dem Abend eine Triggerwarnung voraus. Denn es wird heftig. Die ersten Ränge sind mit Schulklassen besetzt, diese Art von Ansage kennen sie aus sozialen Medien. Köpfe senken sich. Augen klappen zu. Weiterscrollen oder zurückklicken, um eine Stelle besser zu verstehen, das klappt nicht, so der „Feed“ auf einer Bühne stattfindet. Hörbücher und Podcasts sind heute ein Nebenbei­medium. Hier aber wird jetzt eineinhalb Stunden lang ruhig vorgelesen, das Wort per Blickwechsel übergeben.

Die Hände liegen auf den Knien. Die Knie stoßen an den Vordersitz. Der Handlungsspielraum ist zu beiden Seiten maximal begrenzt. Links fließen Tränen. Rechts wird eine Maske geradegerückt. Jemand verschluckt sich. Carolin Emcke klettert von der Bühne, reicht ihr Wasserglas ins Publikum. Erinnerung sei Arbeit, das hatte sie zu Beginn gesagt. Es ist Arbeit, wenn sich die Auseinandersetzung mit einer unbekannten Geschichte nicht durch Paralleltätigkeiten verwässern lässt und sich im Kopf Schreckensbilder aufzutürmen beginnen.

Viele glauben, dass wir nicht erst in der Pandemie das echte Zuhören verlernt haben.

In der gewollt monotonen Art des Lesens zerfällt der kollektive Schrecken in Einzelstimmen. Manchmal mischt sich das Monströse mit dem Vorstellbaren, oft aber auch nicht.

Die 11-jährige Ruth Klüger, so schrieb sie später, möchte sich in einem Selektionsverfahren, bei dem arbeitsfähige Frauen zwischen 15 und 45 ausgewählt werden, aus Renitenz zunächst partout nicht älter machen, wie es ihre Mutter ihr aufträgt – womit die sie aber rettet. Jean Améry dagegen beschreibt den Klang seiner berstenden Schultergelenke neben seinen Ohren, als er an einem Haken unter die Decke gezogen wird. Klar wird: Die Erinnerung überlebt in solchen Begegnungen. Die Zeit heilt niemals alle Wunden. Aber die Haltung, nicht die Hoffnung, sie stirbt zuletzt.

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Johanna Schmeller, Kultur­journalistin, lebt in München.

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