Das Bruttoinlandsproblem

Bedeutet mehr Wirtschaftsleistung ein besseres Leben? Nein. Warum es an der Zeit für Alternativen zum BIP ist

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert aller im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, die keine Vorprodukte für andere Waren oder Dienstleistungen sind, sondern Endprodukte. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist das BIP zu dem zentralen Wohl­stands­indikator geworden: Steigt das BIP, spricht man von Wirtschaftswachstum. Das BIP wird jeweils jährlich und vierteljährlich berechnet.

Von Svenja Bergt

Der Planetary pressures-adjusted Human Development Index (PHDI) ergänzt den Human Development Index (HDI) um eine ökologische Komponente: die Kohlendioxidemissionen und den ökologischen Fußabdruck pro Kopf. Die daraus errechneten Werte werden von dem HDI abgezogen – in einem Land, in dem es keine Belastung für den Planeten gibt, wären also beide Werte gleich. Aufgrund der identischen Platzierung mehrerer Länder müssen hier 11 Nationen abgebildet werden.

Der Happy Planet Index (HPI) bewertet Länder danach, wie gut sie ihren Be­woh­ne­r:in­nen ein langes, glückliches Leben im Rahmen der planetaren Ressourcen ermöglichen. Der HPI ist ein bewusster Gegenentwurf zum BIP, das auf Wachstum setzt. Grob lässt sich die Formel folgendermaßen zusammenfassen: Lebenserwartung multipliziert mit empfundenen Wohlergehen, geteilt durch den ökologischen Fußabdruck. Deutschland liegt beim HPI auf Platz 29.

Jedes Jahr in den Urlaub fliegen? Sich eine tolle neue Couch leisten, einen neuen Laptop? Ja, für viele Menschen ist das Wohlstand. Es ist ein Wohlstandsverständnis, das angesichts von Inflation und ins Stocken geratenen Lieferketten immer mehr unter Druck gerät. Und durch eine Erkenntnis, die sich nur langsam durchsetzt: Unser Leben, das Leben aller Menschen auf diesem Planeten, wird nicht mehr lange so weitergehen können, wenn ein Teil der Welt weiter an diesem Verständnis von konsumzentriertem Wohlstand festhält.

Im Gegensatz zu vielen anderen Indizes, die Ländervergleiche ermöglichen, funktioniert das Recoupling Dashboard (siehe Interview) länderspezifisch. Recoupling heißt Rückkopplung, der Index arbeitet mit vier Indikatoren: soziale Solidarität, Handlungsfähigkeit einzelner Menschen, materieller Wohlstand und Zustand der Umwelt. Das Recoupling Dashboard soll damit für das jeweilige Land die Wechselbeziehungen zwischen wirtschaftlichem Wohlstand, sozialem Wohlstand und ökologischer Nachhaltigkeit veranschaulichen.

Dabei ist es so praktisch: Wertschöpfung, Investitionen, Einkommen – das lässt sich gut messen. Simplizität wiederum lässt sich einfach kommunizieren und darstellen. Perfekt für eine Kurve, die immer ein Stückchen weiter klettert und signalisiert: Alles ist gut. Kein Wunder also, dass der am weitesten verbreitete Index für die Wohlstandsmessung das Bruttoinlandsprodukt ist. Simpel, klar, vergleichbar. Jenseits davon beginnt die Komplexität. Das zeigen die Grafiken auf dieser Seite. Die Faustregel: Je mehr Faktoren und je weniger greifbar diese auf statistisch erhebbare Größen heruntergebrochen werden können, desto mehr Erklärung braucht ein Wohlstandsindikator.

Der Human Development Index (HDI) misst und kombiniert drei Dimensionen. Erstens: Lebenserwartung. Zweitens: Bildung anhand der durchschnittlichen Anzahl der Schuljahre von über 25-Jährigen und der zu erwartenden Schuljahreszahl bei Schul­an­fän­ger:in­nen. Drittens: das Bruttonationaleinkommen pro Kopf.

Der Better Life Index (BLI) ist kein absolutes Ranking. Stattdessen können Nut­ze­r:in­nen 11 Indikatoren so gewichten, wie sie sie selbst am wichtigsten finden. Die Indikatoren sind Arbeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Mitwirkung an demokratischen Prozessen, Sicherheit, sozialer Zusammenhalt, Umwelt, Wohnen und Work-Life-Balance. Gewichtet man alle Indikatoren gleich, ergibt sich das hier abgebildete Ranking. Deutschland landet auf Platz 13.

Der Gedanke daran, dass die Wohlstandskurve nach unten gehen könnte, weckt Ängste. Ängste vor Verzicht. Ängste vor einem Abstieg. Wenn viele Menschen Angst haben, bald auf der Verliererseite zu stehen, kann das für eine Gesellschaft zum Problem werden. Ebenso aber, wenn die Politik es nicht schafft, zukunftsweisende Lösungen aufzuzeigen, sondern selbst noch an einem überholten Wohlstandsverständnis festhält.

Foto: Gra­fik:­taz

Es kann also nicht nur darum gehen, auf Wohlstand zu verzichten. Stattdessen könnten zwei Fragen weiterhelfen: Welche Bedürfnisse befriedigen wir eigentlich mit dem neuen Smartphone, der Immobilie, dem Auto? Und wie können diese anders, nämlich klima-, ressourcen- und gesellschaftsverträglicher befriedigt werden? Kommunikation, soziale Absicherung, Genuss, Mobilität, Unterhaltung, Teilhabe – all das geht auch mit einem deutlich geringeren ökologischen Fußabdruck. Die bereits entwickelten Wohlstandsindizes, die auf die Umwelt schauen, die Aspekte wie Gesundheitsversorgung einbeziehen oder Bildung, Work-Life-Balance oder Luftverschmutzung, sind wahrscheinlich noch nicht die endgültige Lösung. Aber sie sind ein erster Schritt auf einem Weg, der noch viel zu langsam beschritten wird.