Sozialprotest vor FDP-Parteizentrale: Das erste Zucken der Sozialproteste

Am Mittwoch fand ein Sozialprotest vor der FDP-Zentrale statt. Einiges spricht dafür, dass der Protest noch wachsen wird. Ein Wochenkommentar.

Teilnehmer an der Demonstration "Lindner raus - Umverteilung jetzt!" stehen mit Plakaten an der FDP-Bundesgeschäftsstelle. Auf dem Plaket steht "Kein Templimit für Lindner-Rücktritt"

Tempolimit ist keineswegs immer gut Foto: dpa | Paul Zinken

BERLIN taz | Erwartung und Wirklichkeit klafften in Sachen Sozialproteste in letzten Wochen weit auseinander. Überall war von kommenden Aufständen gegen die steigenden Preise zu lesen. Prophylaktisch übten sich führende Po­li­ti­ke­r:in­nen schon einmal darin, diese in die rechte Ecke zu schieben. Doch obwohl die Ampel mit der Gas-Umlage eine Zwangsumverteilung von unten nach oben verordnete, obwohl sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) über die „Gratismentalität“ derjenigen echauffierte, dessen tägliche Arbeit den Reichtum der Besitzenden schafft – die Straßen blieben leer.

Am Mittwochabend fand dann in Berlin-Mitte der erste Sozialprotest statt. Wer weiß, vielleicht wird die Kundgebung vor der FDP-Parteizentrale ja in einigen Jahren als erstes Lebenszeichen der Sozialrevolte vom Winter 2022/23 gelten. Zwar handelte es sich um kaum mehr als ein Zucken: Nur etwa 200 Demonstrierende forderten den Rücktritt Lindners, mehr Umverteilung, eine Übergewinnsteuer und die Fortführung des 9-Euro-Tickets. Es spricht allerdings einiges dafür, dass der Protest in den kommenden Monaten noch wachsen wird.

Der wichtigste Grund hierfür ist die Ampelregierung selbst. Immer deutlicher wird, dass ihre Loyalität bei den Konzernen, nicht aber bei der gewöhnlichen Bevölkerung liegt. Welcher Partei, welcher Po­li­ti­ke­r:in in dieser Regierung kann denn ernsthaft zugetraut werden, sich für die Interessen der unteren Einkommenshälfte einzusetzen?

Der Bundeskanzler ist mit CumEx scheinbar in den größten Steuerraub der bundesdeutschen Geschichte verwickelt. Der Finanzminister scheint der verlängerte Arm des Porsche-Vorstands zu sein. Und der Wirtschaftsminister sagt, die Gaspreise könnten nicht gedeckelt werden, weil sonst Menschen die Heizung aufdrehen und die Fenster aufreißen. Auch wenn diese Regierung darin ihr Eigeninteresse entdecken würde – sie scheint gar nicht in der Lage, sich durch Umverteilung die passive Zustimmung der Massen zu erkaufen.

Rechte können keinen Sozialprotest

Bleibt die Frage, ob eine reaktionäre Mobilisierung von rechts droht. Das ist eine reale Gefahr. Die Mischung aus den Organisationen der Coronaproteste, der AfD im Parlament und den etablierten Neo-Nazi-Strukturen schafft ein beachtliches Mobilisierungspotenzial der reaktionären Rechten. Soziale Abstiegsängste sowie die Corona- und Klimakrise haben eine große Anzahl bürgerlicher Menschen fehlradikalisiert, sodass viele bereit sind, den als Verschwörung wahrgenommenen Staat zu stürzen.

Es gibt dennoch gute Gründe daran zu zweifeln, dass die Rechten in der Lage sind, eigene Sozialproteste auf die Beine zu stellen. Denn Sozialrevolten folgen einer anderen Logik als beispielsweise Proteste gegen die Coronamaßnahmen. In diesen ging es um die negative Freiheit vor kollektiven Maßnahmen des Gesundheitsschutzes. In ihrem Zentrum stand das bürgerliche Individuum, das auf jegliches Aufeinander-Acht-geben verzichten wollte. In diesem Sinne waren die Coronaproteste stets neoliberal geprägt.

Sozialproteste dagegen drehen sich um positive Freiheiten wie die, sozial abgesichert zu sein, in Solidarität leben zu dürfen oder als Gemeinschaft die eigene Zukunft zu bestimmen. Sie sind geprägt vom demokratischen Geist der Gleichheit, an den anzudocken den Rechten noch nie gelungen ist. Das ist kein Zufall: Das Kernelement der rechten Ideologie ist die Ungleichheit, ob nun der Menschen, Völker oder Marktsubjekte. Kollektive Gefühle kennen Rechte nur in Form von Feindschaft zu anderen Gruppen.

Kernkompetenz der Linken

Ob es nun gegen ökonomische Ungleichheit, patriarchale Strukturen oder Rassismus geht: Der Kampf für Solidarität ist dagegen die Kernkompetenz der Linken. Möglich ist, dass dieses intuitive Verständnis von Gerechtigkeit ein Grund dafür ist, dass bereits ein Konsens bezüglich der Forderungen gefunden wurde. Übergewinn-, Erbschafts- und Vermögenssteuern, Energiepreisdeckel, 9-Euro-Ticket und der Rücktritt der Ampel-Regierung sind ein ausreichend radikaler, aber auch anschlussfähiger Forderungskatalog. Sowohl sozialdemokratische Rent­ne­r:in­nen als auch junge An­ti­ka­pi­ta­lis­t:in­nen werden sich dahinter stellen können.

Sogar die Pluralität der linken Bewegungen könnte sich in den kommenden Monaten als Segen erweisen. Wie eine produktive Arbeitsteilung aussehen könnte, ließ sich am Mittwoch bereits erahnen: Die Gewerkschaften tragen Arbeitskämpfe aus, Mieter:innen-Inis kämpfen gegen Zwangsräumungen und Mietsteigerungen. Sozialverbände und Initiativen wie #Ichbinarmutsbetroffen artikulieren die Missstände. Die Klimabewegung fordert den massiven Ausbau Erneuerbarer Energien. Antifas halten die Proteste nazifrei. Wer weiß – vielleicht findet in all dem Trubel ja sogar die Linkspartei ihre Seele wieder.

Klar gibt es auch Fallstricke. Die Russlandtreue von einigen in der Linkspartei etwa, oder die Versuchung des Standortnationalismus, der die Interessen der bundesdeutschen gegen die der Ar­bei­te­r:in­nen­schaft in der Ukraine oder im globalen Süden ausspielt. Doch werden diese vermieden und die Kämpfe der linken Organisationen in solidarischer Weise verbunden, ist es möglich, dass reale Veränderungen erkämpft werden können.

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