: Eigene Shows
Wild, ungestüm, chaotisch: Bevor er eine Weltkarriere machte, fotografierte Lucian Perkins die frühe afroamerikanische Punkszene in Washington. Die Galerie Neurotitan zeigt erstmals in Deutschland die Aufnahmen
Von Jens Uthoff
Dicht an dicht drängen sich junge schwarze Kids in den vorderen Reihen während des Konzerts, die Augen weit aufgerissen, staunend, starrend. Vor ihnen, auf der Bühne, tobt ein Sänger mit nacktem Oberkörper und stacheligen blondierten Haaren, er hat sich das Mikrofon in den Mund geschoben und reckt den Kopf nach vorne. Ein Schellenkranz ragt ins Bild, man sieht einen Mikroständer, den Hals einer E-Gitarre, einen Haufen Leute um den Sänger herum. Alles wirkt wild, ungestüm, chaotisch.
Das Foto, das diese Szene zeigt, wurde am 9. September 1979 bei einem Konzert in Washington, D. C. aufgenommen. Paul Hudson alias H. R., Sänger der Punkband Bad Brains, veranstaltete an diesem Tag eine „Rock Against Racism“-Show in der US-Hauptstadt, angelehnt an die gleichnamigen britischen Großveranstaltungen im Jahr 1978. Doch mit seinem Vorbild aus UK hatte der Gig wenig gemein, es war ein kleines, selbstorganisiertes Konzert, zu dem die Kids aus der Gegend kamen – dem heruntergekommenen und als gefährlich geltendem Viertel Valley Green. Neben den Bad Brains trat die kurzlebige Washingtoner Band Trenchmouth auf, deren Sänger Charlie Danbury auf dem Bild zu sehen ist.
Die Fotos hat der damals 26-jährige Lucian Perkins aufgenommen. Er war zu der Zeit Praktikant der Washington Post, später machte er bei dem Blatt Karriere: Perkins fotografierte Reagan und Gorbatschow in Moskau, er war Kriegsfotograf in Irak, Afghanistan und dem ehemaligen Jugoslawien, erhielt zweimal den Pulitzer-Preis. Vier Konzerte der Washingtoner Hardcore-/Punk-Community hat er im Jahr 1979 dokumentiert, die Fotos wurden 2013 zunächst im Bildband „Hard Art DC 1979“ veröffentlicht, nun zeigt die Galerie Neurotitan in Mitte die Schwarz-Weiß-Aufnahmen erstmals in einer Ausstellung in Deutschland. Die Texte für das Buch und die Schau hat Alec MacKaye, einer der Protagonisten der damaligen Szene und Bandmitglied von Untouchables, Faith und Ignition, verfasst.
Perkins, 69, und MacKaye, 56, sind zum Aufbau der Ausstellung nach Berlin gekommen, sie sitzen am Freitag vor der Eröffnung auf kleinen Hockern in der Galerie Neurotitan und diskutieren angeregt über die frühe D.-C.-Punkszene und über das Antira-Konzert. „Man muss wissen, dass Washington eine geteilte und segregierte Stadt war“, erzählt MacKaye. „Bei diesem Konzert traf ich auf afroamerikanische Kinder, die noch nie mit einer weißen Person gesprochen hatten!“ In Washington, wo die schwarze Bevölkerung die Mehrheit bildete, sollte sich fortan eine der inklusivsten und gemischtesten Punkszenen überhaupt entwickeln. Dies war zuvörderst ein Verdienst der Bad Brains, eine der ersten afroamerikanischen Punkbands überhaupt und stilprägend in ihrer Ästhetik. Perkins sagt rückblickend: „Es war schon früh abzusehen, dass aus den Bad Brains etwas Großes werden könnte. H. R. hatte für mich die Bühnenpräsenz eines James Brown oder eines Jimi Hendrix.“
Perkins’ frühe Punkfotos wären wohl auf ewig in seinem Archiv verschollen geblieben, wäre nicht Lely Constantinople, selbst Fotografin und Verwalterin seiner Aufnahmen, Mitte der 90er auf die Negative mit den Bildern gestoßen. Sie ist – so klein ist die Washingtoner Szene – heute mit Alec MacKaye verheiratet und erkannte auch ihren damaligen Freund auf den Aufnahmen. Constantinople organisiert und kuratiert die Schau gemeinsam mit der Künstlerin Jayme McLellan.
Die Fotos von Perkins bilden den integrativen Charakter dieser lokalen Subkultur ab, sie sind aber ganz wesentlich auch Porträts der Musiker und der Besucher:innen. „Es war eine sehr kleine, intime Szene, der vielleicht 150 Leute angehörten. Das hat es für mich so interessant gemacht“, sagt Perkins. Intimität ist wohl der entscheidende Begriff, um seine Aufnahmen zu charakterisieren. Sie fangen das Geschehen abseits der Bühne ein, geben einen Einblick in das Lebensgefühl dieser aufbegehrenden Menschen: Punks und Punketten sitzen in Lederjacken auf Treppen, hängen ab, schauen lethargisch oder euphorisch drein, präsentieren ihren Look.
Die Bilder zeigen auch, wie viel ein kleiner Kreis an Leuten selbstorganisiert auf die Beine stellen kann. Bevor sie eigene Shows veranstalteten, hätten The Damned in D. C. gespielt, erzählt MacKaye – und viele junge Fans hätten wegen der Altersgrenze nicht hingehen können. „Wir kamen nicht in die Clubs, weil man über 18 sein musste. Also dachten wir: Wir können unsere eigenen Shows organisieren. Drei Dollar für drei Bands, all ages. Ohne Security, nur Sound und Menschen und Hunde. Und manchmal kam die Polizei. Oft kam die Polizei.“
In einem sind sich Perkins und MacKaye einig: Sie hätten niemals geglaubt, dass Fotos von diesen Konzerten 43 Jahre später noch einen dokumentarischen Wert haben könnten. „Ich hätte nicht gedacht, dass Punk so lange bleiben würde“, sagt Mac Kaye. „Es schien, als sei die ganze Idee darauf angelegt, sich selbst zu zerstören. Heute ist es eine der langlebigsten Jugendbewegungen überhaupt und immer noch relevant und beliebt.“ Warum das so ist, auch das lassen diese Fotos erahnen.
„Hard Art DC 1979“, Galerie Neurotitan, Rosenthaler Str. 39, Mitte, bis 10. 9., Mo–Sa 12–20 h
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen