Ausstellung im Frankfurter Städel Museum: Was ist denn eigentlich Autonomie?

Feinfühlige Porträtistin, Netzwerkerin und Künstlerkollegin, die sich nicht um Konventionen scherte: die Malerin Ottilie W. Roederstein.

Ein Gemälde eines Paares.

Ottilie W. Roedersteins Porträt „Die Verlobten“ von 1897 (Ausschnitt) Foto: Kunsthaus Zürich

Ihre graublauen Augen schauen unmittelbar zurück. Es ist ein mal strenger, mal milder, aber immer ausgesprochen fester Blick, den sich Ottilie Wilhelmine Roederstein zwischen 1894 und 1936 auf der Leinwand gab. Ihre zahlreichen Selbstporträts zeugen nicht nur von einer malerischen Virtuosität, sondern auch von einem präzise geschärften Bewusstsein für die eigene Person. Mit Zigarillo oder Autofahrerhelm, verschränkten Armen oder ihrem Arbeitswerkzeug, den Pinseln, in der Hand: So porträtiert sich eine Frau, die weiß, wer sie ist.

„Frei.Schaffend.“ heißt die Schau im Frankfurter Städel Museum, das sich jetzt erstmalig und umfassend dem Werk der deutsch-schweizerischen Malerin widmet. Konzipiert wurde die Ausstellung gemeinsam mit dem Kunsthaus Zürich, wo sie allerdings im letzten Jahr coronabedingt schon kurz nach Eröffnung wieder schließen musste. Geboren im schweizerischen Enge als Kind einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, wollte Ottilie W. Roederstein (1859–1937) immer Malerin sein. Sie setzte sich gegen den Willen der Eltern durch und ließ sich privat ausbilden; öffentliche Kunstakademien standen Frauen zu dieser Zeit nicht offen.

Als junge Frau lebte und arbeitete sie in Berlin, Zürich und Paris, wo sie früh selbst ausstellte. 1891 zog Roederstein gemeinsam mit ihrer Partnerin Elisabeth Winterhalter, der ersten gynäkologischen Chirurgin Deutschlands, nach Frankfurt und später nach Hofheim am Taunus. Das Städel Museum hat ihr Werk seit über einem Jahrhundert im Bestand – die Malerin war die erste lebende Künstlerin, die das Haus ankaufte.

„Self.Determined.“ wurde der Ausstellungstitel fürs englischsprachige Publikum aufschlussreich übersetzt, ergo „selbstbestimmt“: Es geht hier also nicht nur um die Wiederentdeckung einer Malerin, die zu Lebzeiten erfolgreicher war als viele männliche Kollegen und die später trotzdem rasch in Vergessenheit geriet. Sondern auch um die Frage, wie eine solche künstlerische und persönliche Autonomie denn im Nachhinein überhaupt zu definieren wäre. Denn die war für eine Malerin Ende des 19. Jahrhunderts nun keineswegs ausgemachte Sache.

Frei.Schaffend: Städel Museum Frankfurt, bis 16. Oktober, Katalog 39,90 €

„Freie Komposition und monumentale Aufgaben scheinen der Veranlagung der Frau weniger zu entsprechen“, attestierte noch 1918 ein Gutachten der Kunstakademie München und lieferte die Begründung gleich hinterher: „Diese Selbstbeschränkung der überwiegenden Mehrheit aller künstlerisch tätigen Frauen hat ihren Grund sicher nicht im Mangel einer entsprechenden Ausbildungsmöglichkeit, sondern in einem richtigen Gefühl für die Grenzen der eigenen Begabung.“

Man muss gar nicht historisch kramen, um ähnlich skurrile Zitate ausfindig zu machen. Baselitz war sich noch vor ein paar Jahren sicher, Frauen könnten halt einfach nicht malen. Roe­derstein hätte das vermutlich kaum tangiert. Sie war eine produktive und zu Lebzeiten sehr gefragte Malerin, die von manch männlichem Kollegen „Meisterin“ genannt wurde. Ihre Fokussierung auf Porträtmalerei sicherte ihr eine wirtschaftliche Unabhängigkeit, von der andere nur träumen konnten.

Ähnlich beeindruckend wie die Selbstbildnisse sind die zahlreichen Porträts, die Ottilie Roe­derstein von ihren Auftraggeberinnen und -gebern anfertigte. Von Wilhelm Altheim, dem „Buffalo Bill Eschersheims“, mit Flinte und Patronengurt. Von einem algerischen Militärangehörigen. Von Kindern und Alten. Hinzu kommen unzählige Stillleben, später auch religiöse Motive und viele Einzelwerke, die vom feinen Humor der Malerin zeugen. Wie das Bild „Lebensweisheit oder Drei weltabgewandte Frauen“, auf der ihre Freundin Emma Kopp die berühmten drei japanischen Affen mimt, die in einem manchmal notwendigen Eskapismus nichts sehen, nichts hören und nichts sagen wollen.

Ottilie Roederstein war eine hervorragende Netzwerkerin, vielleicht aber auch schlicht eine gute Freundin und Kollegin. Hier ergibt sich im Rückblick manch ironische Anek­dote. So unterstützen Roederstein und Winterhalter finanziell niemand Geringeren als Alexej Jawlensky, der heute im benachbarten Wiesbaden als dauerhafter Malerstar etabliert ist. Sein Porträt ist ebenso in der Ausstellung vertreten wie das vom Malerkollegen Jakob Nussbaum oder jenes von der Frankfurter Malerin und Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath.

Gegenteil eines Kleingeistes

Konkurrenzdenken schien der Künstlerin fremd – immer wieder nutzte sie ihre Kontakte, um jenen Namen Ausstellungen im Ausland zu verschaffen, die später um ein Vielfaches bekannter werden sollten als ihr eigener. Sie wusste eben, wer sie war. Das Gegenteil eines Kleingeists. Mit eigenem Geld gründeten Roederstein und ihre ­Partnerin eine Stiftung für notleidende Maler, wenngleich die der bald einsetzenden Hyper­inflation zum Opfer fiel.

In anderen Bereichen konnten das lesbische Paar und ihr Freundinnenkreis Gewaltiges erreichen: So wurde auf ihren Druck hin 1908 die erste Abiturklasse für Mädchen in Frankfurt geschaffen. Auch gab Roederstein ihr Wissen schon zu Pariser Zeiten in ihrem eigenen Atelier an Malerinnen weiter – eine gute Alternative zu den sogenannten Damenateliers, die oft von Männern geführt wurden und in denen ein Schulterschluss mit den männlichen Künstlerkollegen gar nicht unbedingt erwünscht war.

Es ist verlockend, aber eben auch falsch, einen liberalen oder wohl geradezu progressiven Lebenswandel automatisch mit ästhetischer Avantgarde zusammenbringen zu wollen. Und umgekehrt. Ottilie W. Roederstein verfolgte ihren eigenen Stil, der sich im Laufe der Zeit freilich immer wieder veränderte. Abstrakt arbeitete sie nie. Später entdeckt die Malerin die Schönheit der japanischen Druckgrafik für sich – und adaptiert sie auf eigensinnige Weise. Man muss schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass Arbeiten wie das Porträt Fritz von Hochbergs nicht gedruckt, sondern in perfektio­nierter Nachahmung der bewunderten Kunsttradition mit Ei-Tempera gemalte Bilder sind.

Ottilie Roederstein richtete sich durchaus nach dem Geschmack ihrer Auftraggeber. Doch hatte und hat natürlich auch der Imperativ zur ästhetischen wie identitätstechnischen Markenbildung im zeitgenössischen Kunstbetrieb, der die Autonomie gern als selbstverständliche Ausgangslage behauptet, seine ganz eigenen Einschränkungen. „Frei.Schaffend.“ ist Erinnerung daran, dass Zeit- und Kunstgeschichte komplexer und widersprüchlicher sind, als sie im Nachhinein oft erzählt werden. Sie ist die überfällige Würdigung einer Malerin, die sich nicht um Konventionen scherte – offenbar auch nicht um die, als Künstlerin eines aufkommenden Zeitalters, das einmal als Moderne beschrieben werden sollte, besonders avantgardistisch sein zu müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.