piwik no script img

Kiew bläst zum Rückzug aus Sewerodonezk

Ukrainische Truppen geben eine ihrer letzten Bastionen im Gebiet Luhansk auf. 80 Prozent aller Häuser sind zerstört

Lyssytschansk im Gebiet Luhansk: Alle Brücken sind zerstört Foto: Tyler Hicks/NYT/Redux/Laif

Von Barbara Oertel

Wochenlange erbitterte Kämpfe, doch am Ende hatten ukrainische Streitkräfte der militärischen Übermacht des russischen Aggressors in der ostukrainischen Stadt Sewerodonezk nichts mehr entgegenzusetzen. Am späten Donnerstagabend kündigte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhi Haidai, den Rückzug der verbliebenen ukrai­nischen Truppen an. „Wir müssen unsere Leute zurückziehen“, sagte er. Ein entsprechender Befehl sei bereits erteilt worden.

Es habe keinen Sinn, in zerstörten Stellungen zu verbleiben, da die Verluste in den unzureichend befestigten Gebieten täglich zunehmen würden, sagte Haidai. Seinen Angaben zufolge seien 90 Prozent der Häuser in der Stadt beschossen und davon 80 Prozent schwer zerstört worden. Diese könnten nur noch abgerissen werden.

Die Aufgabe des Industriegebietes von Sewerodonezk bestätigte auch der ukrainische Journalist Juri Butusow. Dort hatten sich ukrainische Einheiten und Zi­vi­lis­t*in­nen zuletzt im Asot-Chemiewerk verschanzt. „Der Rückzug ist zwar bitter, aber diese Entscheidung war längst überfällig“, schrieb Butusow auf Facebook.

Die Eroberung von Sewerodonezk in dem Gebiet Luhansk ist für Russland ein strategisch wichtiges Etappenziel, um den gesamten Donbass unter Kon­trol­le zu bekommen. Auch auf Lys­sy­tschansk, Zwillingsstadt von Sewerodonezk, sollen russische Truppen weiter vorgerückt sein. Aufklärungseinheiten hätten bereits Außenbezirke der Stadt erreicht, russische Hubschrauber Zufahrtsstraßen und Brücken auf dem Weg nach Lyssytschansk zerstört, zitiert das ukrainische Nachrichtenportal Ukrainska Pravda Serhi Haidai.

Zuvor hatten russische Streitkräfte sowie prorussische Kämpfer eigenen Angaben zufolge die beiden Siedlungen Hirske und Solote erobert. Letztere verbreiteten am Freitag ein Video, in dem das Hissen ihrer Flagge auf dem Gebäude der Stadtverwaltung von Solote, das südlich von Lyssytschansk liegt, zu sehen ist.

Unterdessen hat der Bürgermeister von Mykolajiw, Alexander Semkewitsch, die Be­woh­ne­r*in­nen aufgefordert, die süd­ukrai­nische Stadt zu verlassen. Das berichtete das ukrainische Nachrichtenportal Novoje vremja. Die Stadt werde täglich beschossen, wobei vor allem Clusterbomben zum Einsatz kämen. Von den einst 480.000 Be­woh­ne­r*in­nen sollen sich noch 230.000 in der Stadt aufhalten.

Die jüngsten Gebietsverluste im Donbass dürften auch die Freude über den EU-Gipfel trüben. Dort hatten die Staats- und Regierungschef am Donnerstag den EU-Kandidatenstatus für die Ukraine abgesegnet. Aus dem Kreml hieß es dazu, dass sei eine innere Angelegenheit Europas. Das Wichtigste sei, dass diese Prozesse nicht zu großen Problemen in den Beziehungen dieser Länder zu Russland führten, zitierte die Agentur Interfax Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Russlands Außenminister Ser­gei Lawrow erteilte der Welt einmal mehr eine Geschichtslektion. Die Europäische Union habe mit der Nato eine Koalition gebildet, um Krieg gegen Russland zu führen, sagte er am Freitag der russischen Nachrichtenagentur RIA zufolge. Genauso habe Hitler im Zweiten Weltkrieg agiert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen