Politologe über EU und Balkanstaaten: „Skeptisch, ob es Fortschritt gibt“
Vor dem EU-Gipfel fordert der nordmazedonische Politologe Zoran Nechev von der EU Glaubwürdigkeit gegenüber dem Balkan – auch um der Ukraine willen.
taz: Herr Nechev, beim EU-Gipfel diese Woche schaut die Welt nicht nur auf die Ukraine, sondern endlich auch auf Nordmazedonien und Albanien. Seit 17 Jahren hängt Nordmazedonien im EU-Beitrittskandidatenstatus fest, zuletzt durch das Veto Bulgariens. Was erwarten Sie vom Gipfel?
Zoran Nechev: Ich bin sehr skeptisch, ob es am Donnerstag einen Fortschritt gibt. Frankreich hat einen Vorschlag für den Verhandlungsrahmen mit der EU auf den Tisch gelegt. Für uns stellt sich die Frage, ob wir den Beitrittsprozess unter diesen Bedingungen wollen.
Was ist an dem Vorschlag problematisch?
So ziemlich alle Forderungen Sofias sind Teil davon: So will Bulgarien, dass Skopje anerkennt, dass die mazedonische Sprache ihren Ursprung im Bulgarischen hat, sowie die Anerkennung der bulgarischen Minderheit in der Verfassung. Die Beilegung dieser eigentlich bilateralen Konflikte wurde nun in das Hauptkapitel der EU-Integration verlegt – der gesamte Beitrittsprozess fußt darauf. Ist also Sofia nicht zufrieden mit unseren Maßnahmen, wird es weiterhin blockieren.
ist Politologe am Institute for Democracy, einem Think Tank in Nordmazedonien. Er ist spezialisiert auf die Beziehungen zwischen der EU und den westlichen Balkanstaaten.
Dabei hat Nordmazedonien längst alle geforderten Reformen durchgeführt, bis hin zur Änderung des eigenen Namens von „Mazedonien“ zu „Nordmazedonien“. Griechenland hatte das Land deshalb jahrelang blockiert. Was denken die Nordmazedonier*innen heute über den Beitritt?
Die Menschen haben die Nase voll – und auch wir, die schon so lange an diesem Prozess mit der EU beteiligt sind. Wir haben so viel gegeben, nur um die Verhandlungen überhaupt erst zu starten, geschweige denn sie zu beenden. Die Menschen fragen sich: Welche Forderung kommt als nächstes? In dieser Atmosphäre ist es schwierig, in Skopje zu einer Lösung zu kommen.
Auch die rechte Opposition ist nicht zu weiteren Zugeständnissen an die EU und Sofia bereit. Vergangene Woche forderten Anhänger*innen der größten Oppositionspartei VMRO-DPMNE in Skopje Neuwahlen.
Dass VMRO-DPMNE jede Art von Verfassungsänderung, um die bulgarischen Forderungen umzusetzen, nicht unterstützen würden, ist lange klar. Die Regierung hat nur eine dünne Mehrheit im Parlament. Um die Verfassung zu ändern, braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Es fehlt auch an Transparenz, die Details des Verhandlungsrahmens werden nicht wirklich im Parlament diskutiert, auch nicht in der Öffentlichkeit. Kaum jemand weiß, was Skopje da am Ende akzeptiert oder nicht.
Zudem verheißt die aktuelle Regierungskrise in Bulgarien nichts Gutes für den Dialog mit Skopje. Ein Koalitionspartner verließ im Streit um Nordmazedonien die Regierung. Wie blickt man von Nordmazedonien aus auf diesen Konflikt?
Sämtliche Medien berichten drüber. Denn offensichtlich wird unser Schicksal ja in Sofia bestimmt, nicht in Skopje. Und immer wenn in Sofia eine Entscheidung in der Causa Nordmazedonien ansteht, gibt es dort eine Regierungskrise. Auch deswegen droht dort in kürzester Zeit die vierte Wahl.
Petkov, der erst seit einem halben Jahr Regierungschef ist, wollte den Dialog mit Skopje vorantreiben. Gab es tatsächlich Fortschritte?
Es gab Versuche. Allerdings kam Petkov an die Macht, als es das Veto der Vorgängerregierung bereits gab. Er musste irgendwie damit umgehen. So wurden Arbeitsgruppen eingerichtet, die über Transport- oder Wirtschaftsfragen verhandelt haben, um Vertrauen herzustellen. Die eigentlichen Probleme (Fragen der Kultur, Sprache und Identität, Anm. d. Red.) wurden nicht angesprochen. Deshalb stehen wir jetzt vor denselben Problemen wie zuvor.
Wie wird Skopje reagieren, sollte die Ukraine beim EU-Gipfel den Status als Beitrittskandidat erhalten?
Offiziell unterstützen die Regierungen von Albanien, Nordmazedonien und Montenegro die EU-Bewerbung der Ukraine – genauso wie die Öffentlichkeit. Heimlich denken sich aber viele auf dem Westbalkan: Okay, ihr könnt den Status als Beitrittskandidat haben, aber schaut euch die Sackgasse an, in der wir uns seit Jahren befinden. Euch wird es nicht anders ergehen. Montenegro verhandelt schon seit zehn Jahren und hat noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Wenn die EU glaubwürdig sein will, muss sie zuerst glaubwürdig gegenüber dem Balkan sein.
Was muss sich am Erweiterungsprozess ändern, damit er glaubwürdiger wird?
Das Prinzip der Einstimmigkeit muss weg. Denn aktuell kann ein Land den Beitrittsprozess missbrauchen, um eigene Interessen durchzudrücken – wie im Fall Bulgariens. Wir brauchen daher das Prinzip der qualifizierten Mehrheit. Denn eigentlich sollte es um demokratische Standards gehen, um wirtschaftliche Annäherung und darum, diese Länder „europäischer“ zu machen. Aber am Ende geht es jetzt darum: Ist dein Nachbar damit einverstanden, wie du deine Geschichtsschreibung geändert hast? So ein Prozess ist nicht glaubwürdig und so kann man von den Kandidatenstaaten auch keine Ergebnisse erwarten.
Und der Anreiz für echte Reformen scheint gering.
Nun ja, die Reformen bringen ja in erster Linie unser Land weiter. Aber sie verlangen viel Mühe, Energie und politischen Willen. Gerade wenn sich Politiker auf dem Balkan an Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Korruption rantrauen, kann es zu ihrem Nachteil werden. Wenn sie sich nicht sicher sein können, dass sie die EU dafür belohnt, wird es schwieriger, sie zu solch heiklen Reformen zu bewegen.
Was kann die Ukraine von den Erfahrungen Nordmazedoniens mit der EU lernen?
Wie komplex der Prozess ist, und dass es wirklich schwierig ist, mit den Befindlichkeiten aller Mitgliedsstaaten umzugehen. Andererseits kann sich die Ukraine, sollte sie den Kandidatenstatus erhalten, auf EU-Gelder freuen, auf Unterstützung bei Reformen. All diese Dinge werden nach dem Krieg für das Land sehr wichtig sein. Aber das Wichtigste ist wohl: Habt keine falschen Erwartungen. Ich kann absolut nachvollziehen, dass man den Kandidatenstatus haben möchte. Aber letztlich hat sich gezeigt, dass der nicht viel aussagt. Er ist vor allem eine politische Botschaft. Daher würde ich den Ukrainern eine praktische Herangehensweise raten: Konzentriert euch auf die Aspekte und Reformen, die der eigenen Bevölkerung nutzen.
Auch Albanien hat alle Anforderungen der EU erfüllt, kann aber mit den Beitrittsgesprächen nicht starten, weil diese nur zusammen mit Nordmazedonien beginnen können. Gibt es Austausch zwischen den Ländern?
Auf zivilgesellschaftlicher Ebene gibt es unzählige Netzwerke, Organisationen und Think Tanks, über deren Austausch ich sehr glücklich bin. Dasselbe geschieht auf politischer Ebene: Minister und Regierungschefs der Westbalkan-Länder treffen sich regelmäßig.
Gibt es von albanischer Seite Druck auf Skopje, bei den bulgarischen Forderungen nachzugeben, damit auch Tirana endlich mit den Beitrittsgesprächen beginnen kann?
Nein, es herrscht Verständnis für diese komplexe Situation vor. Letztlich muss sich die EU überlegen, ob sie an der Variante festhalten will, nur mit beiden Ländern zusammen Gespräche führen zu wollen, oder ob man Albanien und Nordmazedonien entkoppelt. Ähnliche Überlegungen gab es schon nach der Namensänderung, als Nordmazedonien wegen der stockenden albanischen Reformen festhing. Jetzt ist es anders herum.
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