Der Charismatische

Was trieb Theodor Herzl an, Gründer des politischen Zionismus, fragt eine neue Biografie

Theodor Herzl in Palästina, 1898   Foto: Foto:akg-images

Von Till Schmidt

„Das ist nicht länger der elegante Doktor Herzl aus Wien, es ist ein königlicher Spross Davids, dem Grabe entstiegen, der vor uns in der ganzen Größe und Schönheit erscheint, mit der die Legende ihn umgeben hat. Jeder ist ergriffen, als hätte sich ein historisches Wunder ereignet. […] es war, als stünde der Messias, der Sohn Davids, vor uns.“

Mit diesen schwärmerischen Worten schilderte ein russischer Journalist den Auftritt von Theodor Herzl beim Ersten Zionistenkongress 1897. Im Baseler Stadtcasino war der Begründer des politischen Zionismus zwar bemüht, einen pragmatischen, wenig emotionalen Ton anzuschlagen. Konterkariert wurde dies jedoch von der Ergriffenheit vieler Teilnehmer. Auch der Journalist, Mordechai Ben-Ami, konnte sich nicht zurückhalten und rief auf Hebräisch „Lang lebe der König“. Andere stimmten der Überlieferung zufolge spontan ein.

Lobeshymnen auf Herzl (1860–1904) und den Zionismus waren um die Jahrhundertwende auch in der jüdischen Welt nicht selbstverständlich. Im Gegenteil, vielerorts stießen er und seine Ideen für die Schaffung eines eigenen Staates für die Juden auf Irritation und Ablehnung. Hierüber wurde bereits viel geschrieben. Bereits Herzls ursprünglicher Plan, den Kongress in München abzuhalten, scheiterte am Widerstand der dortigen Gemeinde­funk­tio­näre, und selbst innerzionistisch war er nicht unumstritten. Herzls Gegenspieler Achad Ha’am etwa kritisierte an dessen Visionen einen Mangel an Jüdischem. Religiös-orthodoxe Zionisten beklagten eine Geringschätzung der jüdischen Religion und Tradition.

Mit „Theodor Herzl: A Charismatic Leader“ hat Derek Penslar 2020 den vielen Herzl-Biografien eine weitere hinzugefügt, die nun auch auf Deutsch erschienen ist. Penslars Fokus liegt auf Herzls Innenleben, seiner Beziehung zur zionistischen Bewegung sowie auf seiner Tätigkeit als renommierter Journalist und als späterer „Staatsmann ohne Staat“, wie es im deutschen Untertitel passend heißt. Insgesamt versucht der Harvard-Historiker herauszuarbeiten, was Herzl antrieb und was seine Ausstrahlungskraft gegenüber anderen ausmachte. Ein weiteres Thema sind Herzls Präsenz in der internationalen Diplomatie und seine geopolitischen Strategien.

Penslars Biografie ist eine gut geschriebene Einführung. Ihre Stärke liegt in der für einen knappen Umfang von 230 Seiten beachtlichen Mischung aus Detailfülle und Knappheit. Gerade für Einsteiger dürfte sich die Lektüre daher lohnen. Für die Herzl-Forschung hingegen bietet das Buch leider nur wenig Neues.

Herzls zentrale Schriften – allen voran „Der Judenstaat“ (1896) und der utopische Roman „Altneuland“ (1902) – behandelt Penslar in Bezug auf ihre Entstehungs- und unmittelbare Rezeptionsgeschichte sowie auf ihre zentralen Themen und einige ihrer Motive. Gerade bei Herzls ambivalenter Haltung zu den Arabern Palästinas und der Region oder auch bei seinen Vorstellungen von Geschichte und Fortschritt fällt es auf, dass Penslar in seiner Biografie viele interessante Fragen immer wieder eher streift als systematisch analysiert.

Faszinierend lesen sich etwa die Schilderungen der politischen und gesellschaftlichen Atmosphäre im Frankreich zu Herzls Zeit als Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse aus Wien. Ähnliches gilt für Penslars Analyse der Bedeutung der antisemitischen Dreyfus­affäre für Herzls Zionismus, die er selbst im Nachhinein übertrieben und zum Erweckungserlebnis stilisiert hatte; oder für die Abschnitte zu Herzls Verhältnis zu seinem Mitstreiter Max Nordau, zu den polemisch ausgetragenen Kontroversen mit Achad Ha’am oder zum zeitweiligen Plan für einen jüdischen Staat im heutigen Kenia.

Vieles wird eher anekdotisch behandelt und kaum theoretisch eingeordnet

Penslar macht zudem deutlich: Die Idee einer eigenen jüdischen Staatlichkeit gab es bereits vor Herzl. So hatte etwa Leo Pinsker, Journalist und Arzt aus Odessa, 1882 vor dem Hintergrund der antisemitischen Pogrome im russischen Reich seine Schrift „Auto-Emancipation“ veröffentlicht. Herzl selbst bemerkte später in seinem Tagebuch, in Kenntnis von Pinskers Schrift hätte er „Der Judenstaat“ wohl nicht geschrieben. Von Yehuda Alkalais orthodoxem Proto­zionismus hingegen könne Herzl über seinen Großvater erfahren haben, mutmaßt Penslar. Moses Hess, der „Rom und Jerusalem“ bereits 1862 veröffentlicht hatte, wird allerdings nicht erwähnt.

Der Frage, woher Herzls Antriebs- und Ausstrahlungskraft kam, widmet sich Derek Penslar immer wieder. Mehrere Nachrufe, die vielen Schilderungen von Begegnungen mit Herzl sowie die Beschreibungen seines eindrucksvollen Erscheinungsbildes verraten zwar einiges über seine Außenwirkung. Doch von Penslar wird dies alles leider eher anekdotisch behandelt, nicht immer quellenkritisch und zeithistorisch kontextualisiert und kaum theoretisch eingeordnet.

Darüber hinaus finden sich in seiner Biografie immer wieder Passagen, die Herzls Antrieb auf ein verzweifeltes Bedürfnis nach Sinnstiftung inmitten von psychischen Problemen sowie einem unerfüllten Sexual- und Eheleben zurückführen. Dies dürfte auch Penslars Ziel geschuldet zu sein, Herzl nicht zum makellosen Heiligen zu erheben, sondern ihn auf Grundlage seiner autobiografischen Zeugnisse zu verstehen. Die vielen Psychologisierungen im gesamten Buch hinterlassen dennoch einen schalen Beigeschmack.

Derek Penslar: „Theodor Herzl. Staatsmann ohne Staat. Eine Biographie“. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 256 Seiten, 24 Euro