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Shanghai jiayou

Er hebt alles auf, schon immer. Die Wohnung, in der D mit seiner Frau lebt, ist ein magischer Ort. Überall klemmt, liegt, klebt, irgendwas zwischen, neben, auf, unter, hinter irgendwas anderem. D findet alten Kram wertvoll: Die kleinen, handgefertigten Zikadenkäfige, die man früher bei den Händlern am Straßenrand kaufen konnte. Das ­verblichene Hochzeitsfoto des Cousins zweiten Grades von der lieben Nach­barin in der alten Wohnung in der Xinhua Road, die immer frische ­Gurken vorbeibrachte. Den Gürtel mit Halterungen für kleine Schnapsflaschen, den ihm ein ausländischer Freund geschenkt hat. Und die alten Lebensmittel­marken.

Von 1958 sind die. Für Getreide, Reis, Fisch, Fleisch. 1958, das war der Beginn der großen chinesischen Hungersnot. Wie die meisten nennt D sie „die drei bitteren Jahre“. Niemals wieder musste er sich danach Essen einteilen. Bis jetzt.

Seit Wochen sind 25 Millionen Menschen in Shanghai im Lockdown. Die Behörden meldeten am Mittwoch einen Höchststand von 26.330 neuen Ansteckungen am Vortag. Für China ist es der größte Corona-Ausbruch seit Beginn der Pandemie in Wuhan. Anfangs hatte die Stadtregierung ihre Be­woh­ne­r*in­nen noch abwechselnd und nur für wenige Tage angewiesen, zu Hause zu bleiben. Aber den Parteiobersten in Beijing reichte das nicht. Sie verhängten eine strikte Ausgangssperre für alle, sofort. Bis wann genau? Ungewiss.

Millionen konnten keine Vorräte kaufen, um die Versorgung kümmert sich jetzt der Staat. Täglich sollen alle Haushalte Lebensmittel bekommen, Gemüse, Fleisch, vielleicht Instantnudeln. Dass das nicht überall klappt, dringt durch, trotz Zensur. Viele klagen über die Willkür und Härte von Offiziellen. Über unmenschliche Zustände in Quarantänezentren, mangelnde medizinische Versorgung. Und über Hunger. In einer der reichsten Städte des ­Landes.

D sagt, er habe genug zu essen: Mach dir keine Sorgen. Ich schreibe: shanghai jiayou . Wörtlich: Shanghai, gib Öl hinzu. Bedeutet: Shanghai, halte durch. Lin Hierse

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