Regionalparlamentswahl in Nordirland: Insel vor historischer Wende

Die Pro-Wiedervereinigungs-Partei Sinn Féin könnte stärkste Kraft werden. Die nordirische Wahl gibt auch die Stimmung der Einwohner zum Brexit wieder.

Stühle, auf einem liegt ein Plakat mit der Aufschrift "Vote DUP"

Nach den Wahlen könnte Nordirlands Regionalparlament insgesamt so aussehen Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

DUBLIN taz | Nordirland wählt am Donnerstag ein neues Regionalparlament. Aber es wird nicht tagen, zumindest vorerst nicht. Die Democratic Unionist Party (DUP), die bisher stärkste Partei, boykottiert das Parlament. Der Grund dafür ist das Nordirland-Protokoll im Brexit-Vertrag.

Das Protokoll regelt, dass Nordirland faktisch Teil des EU-Binnenmarkts bleibt und sich an die EU-Zollregeln halten muss. Dadurch soll eine physische Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vermieden werden. Stattdessen ist aber eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien entstanden, damit britische Waren nicht unkontrolliert nach Nordirland und von dort in den EU-Binnenmarkt gelangen können.

Für die probritischen Unionisten, deren größte politische Partei die DUP ist, ist es inakzeptabel, dass Nordirland damit anders als der Rest des Vereinigten Königreichs behandelt wird. Sie befürchten, das sei der erste Schritt zu einem vereinigten Irland. Die Furcht ist nicht unbegründet. Laut einer Umfrage des Institute of Irish Studies an der Universität Liverpool liegt Sinn Féin, ehemals politischer Flügel der inzwischen aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die jahrzehntelang mit der Waffe gegen die britische Herrschaft in Nordirland kämpfte, mit 23,2 Prozent deutlich vor der DUP, die nur auf 19,4 Prozent kommt.

Darüber hinaus hat Sinn Féin in der Republik Irland bei Meinungsumfragen als wichtigste Oppositionspartei deutlichen Vorsprung vor den beiden etablierten Parteien Fine Gael und Fianna Fáil, die in Dublin seit der Unabhängigkeit vor hundert Jahren abwechselnd regiert haben und jetzt erstmals gemeinsam regieren, in einer Koalition mit den Grünen. Sollte Sinn Féin eines Tages sowohl in Dublin als auch in Belfast die Regierung stellen, wäre der Weg zu einem Vereinigungsprozess auf der Insel wohl kaum noch aufzuhalten.

Im Bürgerkrieg Ende der sechziger Jahre starben rund 3.500 Menschen

Im nordirischen Wahlkampf kocht Sinn Féin das Thema Wiedervereinigung jedoch klein, auch wenn Parteichefin Mary Lou McDonald sagt, es sei „die beste Option für die Zukunft unserer Insel“. Sinn ­Féins Wahlkampfthemen sind Lebenshaltungskosten, bezahlbarer Wohnraum sowie die extrem langen Wartezeiten auf Termine bei Fachärzten in Krankenhäusern. Diese Punkte stehen bei den Wählerinnen und Wählern ganz oben auf der Liste – im Gegensatz zur Wiedervereinigung. Noch viel weiter unten rangiert das Nordirland-Protokoll.

Für DUP-Chef Jeffrey Donaldson ist das misslich, denn er hat die Wahlen zum Volksentscheid über das Protokoll erklärt. Wahlkampfauftakt war für ihn am 3. Februar, als er seinen Ersten Minister Paul Givan anwies, vom Amt zurückzutreten. Donaldson hatte seit Monaten mit diesem Schritt gedroht. Durch Givans Rücktritt verlor auch seine gleichberechtigte Stellvertreterin Michelle O’Neill von Sinn Féin ihren Posten, denn so ist es im Nordirland-Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 geregelt.

Damals einigte man sich auf ein kompliziertes Konstrukt, das die Vorherrschaft einer Partei verhindern soll. Die protestantischen Unionisten hatten jahrzehntelang allein regiert und den katholischen Nationalisten elementare Bürgerrechte vorenthalten, was schließlich Ende der sechziger Jahre in einem bewaffneten Konflikt eskalierte, der rund 3.500 Menschen das Leben kostete. Der Preis für das Ende des Krieges der IRA war das Konstrukt einer gemeinsamen Regierung der protestantischen und katholischen Kräfte.

Das Regionalparlament besteht aus 90 Mitgliedern, die nach dem Verhältniswahlrecht gewählt werden. Die Regierung ist eine Zwangskoalition, der alle Parteien angehören, die mindestens neun Sitze haben. Neben dem Ersten Minister und der gleichberechtigten Stellvertreterin werden acht Minister nach einem Prinzip bestimmt, wonach sich die Parteien reihum auf Basis ihres Stimmanteils die Ministerien aussuchen können. Lediglich der Justizminister wird von allen Abgeordneten gewählt.

In protestantischen Vierteln tauchen Wandgemälde von Kämpfern auf
Sir Jeffrey Donaldson

Sieht die Union mit Großbritannien in Gefahr: DUP-Führer stellt am 27. April sein Wahlprogramm vor Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

Jeder dieser Abgeordneten muss sich als „Unionist“, „Nationalist“ oder „Anderer“ identifizieren. Manche Entscheidungen, etwa der Haushaltsplan, benötigen nämlich eine Mehrheit auf beiden Seiten.

Die Alliance Party fällt unter „Andere“. Sie kann sich vor jeder Abstimmung als unionistisch oder nationalistisch erklären – je nachdem, wo eine Mehrheit benötigt wird. Lange Zeit spielte die Partei nur eine Nebenrolle, doch Umfragen deuten darauf hin, dass sie am Donnerstag mit mehr als 15 Prozent Stimmanteil zur drittstärksten Kraft werden könnte. Das liegt vor allem an jungen Erstwählern, die sich nicht mehr um die traditionellen katholisch-protestantischen Trennlinien scheren.

Für Donaldson und die DUP wäre es eine Katastrophe, von Sinn Féin überflügelt zu werden. Dann wäre Michelle O’Neill Erste Ministerin, und das hätte weit mehr als nur symbolische Bedeutung. Schließlich haben Donaldson und andere Unionisten-Führer immer wieder behauptet, dass die Union mit Großbritannien sicher sei, solange Nordirland unionistisch regiert werde.

Deshalb spielen Donaldson und andere Hardliner die letzte Karte, die ihnen bleibt: Sie malen das Gespenst der Gewalt an die Wand – im Wortsinne. In protestantisch-unionistischen Vierteln Belfasts und anderer Städte sind in letzter Zeit wieder Wandgemälde von vermummten bewaffneten Kämpfern aufgetaucht.

Für Krieg fehlt die Unterstützung der Bevölkerung

Eine Rückkehr zum Krieg dürfte es jedoch nicht geben, auch wenn es vereinzelte Bombendrohungen und kleine Scharmützel gab. Dafür fehlt die Unterstützung der Bevölkerung. Und auch Donaldsons wirtschaftliches Untergangsszenario zieht nicht, „Das Nordirland-Protokoll kostet die nordirische Wirtschaft 100.000 Pfund jede Stunde“, behauptete er. „Das können wir nicht ignorieren. Jeden Tag kommen Unternehmer zu mir und beklagen, dass das Protokoll ihren Unternehmen schadet. Deshalb musste Givan zurücktreten.“

Tatsächlich haben die 1.200 Mitglieder der nordirischen Kammer für Wirtschaft und Industrie Givans Rücktritt scharf kritisiert. Er habe „negative Folgen für die Menschen und für die Unternehmen“, hieß es in der Presseerklärung. Für Nordirlands Wirtschaft ist das Protokoll ein Segen, das wissen auch die unionistischen Unternehmer. Schließlich haben sie dadurch unbeschränkten Zugang sowohl zum britischen Markt als auch zu dem der EU.

Die Zahlen belegen das: Exporte von Nordirland in die Republik Irland – also in die EU – stiegen im Vorjahr um fast zwei Drittel, Importe legten um 46 Prozent zu. Nordirlands Industrieverband Manufacturing NI setzt sich deshalb dafür ein, das Nordirland-Protokoll beizubehalten – selbst wenn Nordirland dann auf unabsehbare Zeit ohne Regionalparlament auskommen muss.

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