Vorstellungen und Realität: Können wir uns neu erfinden?

Wir müssen so schnell wie möglich lernen, mit einer neuen Realität umzugehen. Auch wenn sie nicht in unsere bisherigen Denkmuster passt.

Der Emir von Katar und Robert Habeck

Zeigt er den Weg? Vize-Kanzler Habeck bei seiner Reise nach Katar am 21. März Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Unsere bundesdeutsche Freiheit wird mit französischen, englischen und amerikanischen Atombomben verteidigt. Das hat diese Woche Daniel Cohn-Bendit gesagt, der Held der progressiven Revolte von 1968 und Frontrunner der zeitgenössischen Aufklärung. Ich habe das lange nicht wahrhaben wollen, weil es mir nicht in meinen Denk- und Gefühlskram passte. Die paar Atombomben kriegen wir auch noch weg, dachte ich, denn sie müssen weg. Nur die Ukrainer haben entsprechend gehandelt. Es hat sich als Fehler mit furchtbaren Folgen herausgestellt.

Selbstverständlich muss man beim Überarbeiten des Denkens aufpassen, dass Resilienz dabei herauskommt und nicht Militarismus. Aber Russlands Angriffskrieg auf Europa zeigt ja eben, dass wir nicht richtig lagen. Bernd Ulrich spricht in der Zeit von einem „verlogenen Pazifismus“, die Militärexpertin Florence Gaub von einer „fehlenden strategischen Kultur“. Viele dachten, die liberalen Demokratien seien gesetzt und wir könnten uns jetzt nur noch auf die internen sozialen und emanzipatorischen Fortschritte konzentrieren. Ich selbst dachte, wir müssten uns nur noch um die sozialökologische Transformation und die Dekarbonisierung kümmern – und vergaß dabei Putin.

Jetzt kommen Rechte und Linke vom gesellschaftlichen Rand oder vom Hochsitz und höhnen, dass „ausgerechnet“ die Grünen nun zum Emir von Katar buckelten, um Gas zu kaufen, dabei hätten sie doch 1896 noch ganz anders geredet. Dahinter steckt neben Strategie und Selbstbefriedigung oft der kurze Gedanke, wir seien unserer Vergangenheit oder gar nur der moralischen Ästhetik verpflichtet.

Wir sind aber einer anständigen Gegenwart und Zukunft verpflichtet, das genau meint Joschka Fischers „Nie wieder Auschwitz“. Es geht jetzt darum, eben nicht das zu tun, was die Bundesrepublik fast immer gemacht hat – Handel treiben und Hände in Unschuld waschen –, denn das reicht in einer sich physikalisch und machtpolitisch radikal verändernden Welt hinten und vorn nicht mehr.

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Die fossilen Volksparteien

Unsere überwiegend von den fossilen Volksparteien Union und SPD geführte Gesellschaft hat eine Energie- und Außenpolitik gemacht, die sich jetzt als Bedrohung gegen Deutschland und Europa wendet. Pars pro toto dafür steht die Gasabhängigkeit von Russland, die der grüne Vizekanzler nun Schritt für Schritt zu verringern sucht, noch zukunftsgefährdender war die jahrelange Verhinderungspolitik eines zügigen Ausbaus der Erneuerbaren.

Wenn es jetzt eben nicht darum geht, sich und seinen Illusionen „treu zu bleiben“, sondern sich entlang der Realität neu zu formieren, dann ist das von Union und SPD wohl zu viel verlangt. Von vielen FDP- und Grünen-Funktionären auch, weil sie ihr Denken und ihr Sein in einer Nische des verantwortungsfreien Illusionismus zusammengenetzwerkt haben.

Es ist die große Frage, ob die Parteien, die wir haben, Thinktanks, Universitäten und Medien, überhaupt schnell genug in der Lage sind, auf der Grundlage einer Realität zu denken, die ihnen und ihrer Kundschaft nicht in den Kram passt. Deshalb müssen jetzt Einzelne vorangehen, auch wenn das für sie zunächst schwer sein wird. Sie müssen knallharte europäische Machtpolitik, planetarische Zukunftspolitik und Hegels Anspruch zusammenbringen, die Wirklichkeit vernünftig zu machen.

Zuvorderst meint das den Kanzler und den Vizekanzler.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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