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Wenn die App das Fiepen filtert

Gesundheits-Apps sollen es Nut­ze­r:in­nen einfach machen, gesund zu leben oder eine Therapie zu unterstützen. Doch Evidenz über die Wirksamkeit gibt es kaum – dafür eine digitale Nebenwirkung

Von Svenja Bergt

Den Schlaf tracken, den Puls oder die fruchtbaren Tage. Besser atmen, regelmäßiger Sport machen oder per Fragenkatalog einschätzen, woher denn diese Schmerzen am Fußgelenk kommen und ob deswegen ein Arztbesuch nötig ist. All das sind nur wenige Beispiele aus dem riesigen Markt an Gesundheits-Apps. Studien beziffern die Zahl der Anwendungen, die in dieser Kategorie in den App-Stores angeboten werden, auf einen sechsstelligen Bereich. Für Nut­ze­r:in­nen ist dabei von außen kaum erkennbar: Bringen diese Apps etwas? Etwa einen gesundheitlichen Mehrwert, einen gezielteren oder ersparten Arztbesuch oder eine schnellere Diagnose? Oder sind sie im schlechtesten Fall gesundheitlich ohne Mehrwert, dafür aber stark im Datensammeln und Werbunganzeigen?

Auf der Suche nach einer Antwort hilft zunächst eine Abgrenzung. Denn Gesundheits-App ist nicht gleich Gesundheits-App. In den App-Stores ist die Kategorie häufig verwoben mit Fitness- und Selfcare-Angeboten, die Grenzen sind fließend. Ist eine Meditations-App einfach nur ein Zeitvertreib oder dient sie der Gesundheit? Beide Ansätze sind denkbar, weshalb eine grobe Unterteilung in zwei Bereiche helfen kann, das Potenzial einer App einzuschätzen.

App auf Rezept

Erstens Apps, die Nut­ze­r:in­nen selbstständig verwenden, mit denen sie etwa eigene, gesundheitsbezogene Daten sammeln oder sich informieren. Die Meditations-App würde dazu gehören, aber auch vieles, was sich in dem Bereich in den App-Stores tummelt: die Schrittzähler-App, das Ernährungstagebuch und die App, die die Werte vom Brustgurt zur Pulsmessung auswertet. Diese Apps unterliegen keiner Regulierung. Zweitens Apps, die für einen bestimmten medizinischen Zweck eingesetzt werden, etwa im Kontext einer Diabetes- oder Tinnituserkrankung, und die als Medizinprodukt zugelassen werden. Was vertrauenerweckend klingt, ist primär eine Konformitätsprüfung, die sicherstellen soll, dass die Apps auch das tun, was der Hersteller angibt. Einen Wirksamkeitsnachweis bedeutet das noch nicht.

Hersteller können ihre Apps aber darüber hinaus durch eine Prüfung beim BfArM – dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – schicken und sie so gegebenenfalls zu einer Kassenleistung machen, die Ärz­t:in­nen dann auf Rezept verschreiben können. Der App-Anbieter muss dann in einer Testphase nachweisen, dass das Produkt zu einer besseren medizinischen Versorgung der Pa­ti­en­t:in­nen beiträgt. Eine im Dezember veröffentlichte Studie der Stiftung Gesundheit kam zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der Ärz­t:in­nen wissen, dass sie Apps auf Rezept verschreiben können, und dass je­de:r fünfte sie bereits eingesetzt hat.

Auf der Liste des BfArM stehen aktuell 31 dieser „Digitalen Gesundheitsanwendungen“. Einige sind erst vorläufig dabei, sie müssen den Nachweis einer besseren medizinischen Versorgung noch liefern. Erst dann wird die App dauerhaft in das Verzeichnis aufgenommen. Mehrere Apps zur unterstützenden Behandlung von Depressionen finden sich hier beispielsweise, aber auch eine, die Reizdarm-Patient:innen nutzen sollen, oder eine für Tinnitus-Geplagte.

Die große Welt der Gesundheits-Apps im Kleinen lässt sich zeigen anhand von Apps im Zusammenhang mit Tinnitus. Wer in Googles Play Store nach dem Stichwort sucht, findet eine dreistellige Zahl an Apps. Manche sind als Therapie oder Teil davon konzipiert. Andere sollen informieren und helfen, das Leiden einzuschätzen, und wieder andere sind einfache Klang- oder Meditations-Apps und scheinen vor allem deshalb mit dem Begriff Tinnitus verknüpft zu sein, um von mehr Suchenden gefunden und installiert zu werden. Viele sind kostenfrei, einige auch kostenpflichtig, und nicht immer erschließt sich auf den ersten Blick, wofür Kun­d:in­nen hier eigentlich bezahlen sollen.

Eine große Zahl der angebotenen Tinnitus-Apps beruht darauf, dass Pa­ti­en­t:in­nen andere Geräusche zu hören bekommen – entspannende Klänge, weißes Rauschen oder Musik, bei der die zuvor bestimmte Frequenz des Tinnitus quasi herausgefiltert wird. Unter vielen dieser Apps finden sich positive Kommentare, für eine der Apps übernehmen bei entsprechender Diagnose auch einige Krankenkassen die Kosten für eine einjährige Nutzung – ohne den Weg über die BfArM-Liste.

Doch die aktuelle medizinische Leitlinie für Tinnitus, die erst im vergangenen Jahr überarbeitet wurde, kommt zu dem Ergebnis: „Für spezielle zur Behandlung des Tinnitus entwickelte und beworbene Geräte sowie akustische Stimulationen mit Tönen, Geräuschen oder verfremdeter Musik besteht nach den vorliegenden Studien keine Evidenz.“ Dazu passt, dass die beiden auf der BfArM-Liste stehenden Tinnitus-Apps, die also ihren medizinischen Nutzen unter Beweis stellen müssen, Anwendungen zur Verhaltenstherapie, Entspannung und dem Umgang mit der Krankheit sind.

Eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums kam 2016 zu dem Ergebnis, dass es kaum eine wissenschaftliche Evidenz zu Gesundheits-Apps gibt. Mit der Möglichkeit der Kassenzulassung und den entsprechenden Nachweisen, die dafür erbracht werden müssen, hat sich die Situation zumindest punktuell verbessert. Eine Studie der Psychoanalytischen Universität Berlin, der Universität Basel und der RWTH Aachen kam zudem im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass es auch bei Apps einen Placebo-Effekt gibt: Proband:innen, denen vorab vermittelt wurde, dass die App, die sie nutzen werden, eine positive Wirkung hat, gaben das auch selbst eher nach der Nutzung an. Die Studie verwendete eine eigens dafür programmierte App zur psychischen Gesundheit. Doch für die breite Masse der auf den Plattformen verfügbaren Gesundheits-Apps gilt: Ob sie etwas bringen, ist nicht bewiesen.

Eine Studie stelltefest, dass 19 der 24 untersuchten Apps persönliche Daten weitergaben

„Das ist ein Risikogebiet“, sagt Peter Grieble, Gesundheitsexperte von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, über die Grauzone der Apps, die gesundheitlichen Nutzen versprechen, ohne dafür Belege liefern zu können. Ein Risiko einerseits, weil etwa durch fehlerhafte Nutzung gesundheitliche Schäden entstehen können. Andererseits, weil es passieren kann, dass Nut­ze­r:in­nen einen Arztbesuch hinauszögern, schließlich haben sie ja jetzt eine App. Umgekehrt gibt es wiederum auch Apps, die Probleme bemerken sollen, die sonst unbehandelt geblieben wären: etwa Apps, die eine Herzrythmusstörung erkennen sollen.

Fehlende Evidenz ist das eine, Nebenwirkungen sind das andere. Wie Tabletten und Tropfen gibt es diese auch bei Gesundheits-Apps – und zwar in Form von Datenschutzproblemen. Dabei muss nicht einmal das eigene Smartphone in fremde Hände geraten oder der Server des App-Anbieters gehackt werden. Es reicht schon der reine Download. Denn die Anbieter der großen App-Stores – Google oder Apple – erfahren natürlich genau, wer die App zur Herzgesundheit, die Diabetes-App und eine mit Tipps zur Gewichtsreduktion installiert hat. Darüber hinaus haben zahlreiche App-Anbieter selbst ein Interesse an den persönlichen Daten der Nutzer:innen.

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) formuliert es in einem Report zu Gesundheits-Apps so: „Zu den wichtigsten Erlösquellen zählen die Schaltung von Werbung (…) und der Verkauf von Nutzerdaten, um (individualisierte) Werbung für die Nutzerinnen und Nutzer zu schalten.“ Das sei besonders problematisch angesichts der Sensibilität der erfassten Daten – schließlich gehören Gesundheitsdaten zu den persönlichsten Informationen.

In einer 2019 im British Medical Journal veröffentlichte Studie analysierten die For­sche­r:in­nen die Datenflüsse von 24 Gesundheits-Apps. Das Ergebnis: 19 der Apps gaben Daten von Nut­ze­r:in­nen weiter, teils an Mutter-, teils auch an Drittfirmen. Ein weiterer Abfluss lässt sich dann kaum noch nachvollziehen. In diesem Geflecht aus Dienstleistern waren auch einige, die Daten von mehreren Apps erhielten – und so umfangreiche Gesundheitsprofile von Nut­ze­r:in­nen erstellen können.

Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen fordern daher zweierlei: eine strengere Regulierung. Und dass Ärz­t:in­nen „bei der Empfehlung von Apps über den möglichen Verlust der Privatsphäre“ aufklären sollten.

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