Kindesmissbrauch in Nordirland: „Lange genug gewartet“

Nordirland entschuldigt sich für Misshandlung von Kindern in staatlichen und kirchlichen Institutionen. Der Weg dorthin war für die Opfer schmerzlich.

Poltikerinnen und Politiker stehen für eine Schweigeminute im Plenarsaal

Schweigeminute im Plenarsaal des Parlaments in Stormont, Belfast am 11. März 2022 Foto: Brian Lawless/AP

DUBLIN taz Es hat fünf Jahre gedauert: Am Freitag hat sich die nordirische Regierung endlich für die physische, psychische und sexuelle Misshandlung von Kindern in staatlichen und konfessionellen Einrichtungen öffentlich entschuldigt. Die entsprechende Untersuchung, die sich mit solchen Verbrechen in den Jahren seit der Gründung Nordirlands 1922 bis 1995 beschäftigte, hatte ihren Bericht bereits 2017 vorgelegt.

Eigentlich sollten der nordirische Premierminister Paul Givan von der Democratic Unionist Party (DUP) und seine gleichberechtigte Stellvertreterin Michelle O’Neill von Sinn Féin die Entschuldigung übermitteln, aber Givan ist Anfang Februar aus Protest gegen das Nordirlandprotokoll des Brexit-Vertrags, durch das Nordirland Teil der EU-Zollunion bleibt, zurückgetreten. Aufgrund des Belfaster Friedensabkommens von 1998, das eine Mehrparteienregierung vorschreibt, verlor O’Neill durch Givans Rücktritt automatisch ihren Job.

Stattdessen verfassten die Minister der fünf größten Parteien – neben der DUP und Sinn Féin waren das die Social Democratic and Labour Party (SDLP), die Ulster Unionist Party (UUP) und die Alliance Party – eine gemeinsame Entschuldigung, die im Sitzungssaal des Belfaster Stormont-Parlaments nach einer Schweigeminute verlesen wurde. „Wir haben euch vernachlässigt, wir haben euch zurückgewiesen, wir haben euch das Gefühl gegeben, unerwünscht zu sein. Es war nicht eure Schuld. Der Staat hat euch im Stich gelassen“, sagte Bildungsministerin Michelle McIlvee von der DUP.

Im Anschluss daran entschuldigten sich auch die Vertreter der sechs Orden, die für die Einrichtungen verantwortlich waren. „Wir akzeptieren, dass wir verantwortlich dafür waren, diesen Missbrauch zu verhindern und dass wir nicht gehandelt haben, um die Anschuldigungen zu untersuchen und dafür zu sorgen, dass eine Strafverfolgung eingeleitet wurde. Wir bedauern dieses schwere Versagen zutiefst“, sagte Bruder Francis Manning vom Orden De La Salle.

Der Leiter der Untersuchung, der 2019 verstorbene Richter Anthony Hart, hatte gegen 22 Einrichtungen ermittelt: Fünf Heime der Stadtverwaltungen, fünf Jugendstrafrechtsinstitutionen, zwei säkulare Einrichtungen, neun katholische Heime und eins der protestantischen Church of Ireland. Zur Beweisaufnahme waren Überlebende aus Großbritannien, Australien, Kanada und anderen Teilen der Welt angereist. Es war die aufwändigste Untersuchung dieser Art. Sie ergab „systemisches Versagen“ in sämtlichen 22 Einrichtungen.

Schadensersatz erst in 10 Jahren

Vor knapp zwei Jahren sind durch einen Fehler der Kanzlei der Opfer die Namen von 250 Betroffenen veröffentlich worden. Der Absender einer E-Mail hatte vergessen, die Namen im monatlichen Rundbrief zu anonymisieren. Einer sagte: „Hunderte von Menschen wissen nun, dass ich ein Missbrauchsopfer bin. Ich wollte nicht, dass irgendjemand das weiß. Selbst einige meiner Verwandten wussten das nicht.“

Neben der Entschuldigung hatte Hart auch Schadensersatz in Höhe von 7.500 bis 100.000 Pfund pro Person empfohlen. Es könne aber bis zu zehn Jahren dauern, bis alle 5.000 Anträge bearbeitet worden seien, gab der zuständige Ausschuss bekannt.

Das sei inakzeptabel, erklärte Fiona Ryan, die erste Kommissarin für Opfer von institutionellem Kindesmissbrauch in Nordirland: „Die Betroffenen haben lange genug gewartet.“ Die Verzögerung lag zum Teil daran, dass die Mehrparteienregierung nur wenige Tage nach Veröffentlichung des Hart-Berichts 2017 platzte und erst drei Jahre später ihre Amtsgeschäfte wieder aufnahm.

Margaret McGuckin von der Organisation der Überlebenden und Opfer begrüßte die Entschuldigung, schränkte aber ein, dass sie nur wegen der langjährigen Lobbyarbeit zustande gekommen sei. „Wir mussten Jahr für Jahr zum Stormont-Parlament marschieren und die Minister anflehen, es zu tun“, sagte sie der Irish Times. McGuckin war acht Jahre lang von den Sisters of Nazareth in Belfast misshandelt worden. Ihr Bruder, der in einem katholischen De-La-Salle-Heim über Jahre vergewaltigt worden war, muss immer noch stattlich betreut werden.

Die Opfer haben sich nur gewünscht, dass ihnen jemand sagt, dass es nicht ihre Schuld war und dass man sie im Stich gelassen habe, sagte McGuckin: „Das hätte vielleicht die Scham, den Schmerz und die Schuld von ihren Schultern genommen und denjenigen aufgebürdet, die diese abscheulichen Gräueltaten an unschuldigen Kindern begangen haben oder sie zugelassen haben, wie die religiösen Orden und der Staat.“

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