NRW-Landtagswahlen: Die gestörte Harmonie der CDU
Die Kür von Hendrik Wüst zum Spitzenkandidaten sollte eine „Jubelveranstaltung“ werden. Doch dann beklagt ein Delegierter die fehlende Diversität.
Denn heute liegen die beiden geschrumpften Volksparteien etwa gleichauf – je nach Umfrage führt mal die CDU, mal die SPD. Im bevölkerungsstärksten Bundesland mit seinen 18 Millionen Einwohner:innen scheint alles auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Wüst und seinem SPD-Herausforderer Thomas Kutschaty herauszulaufen. Und: Bleiben die Grünen weiter deutlich stärker als die FDP, wäre in NRW sogar der Klassiker Rot-Grün wieder drin.
Für Wüst geht es also um alles. Siegt er in NRW, ist er neben Friedrich Merz der neue starke Mann der CDU. Verliert er, droht ihm das Schicksal seines Vorgängers Laschet.
Gewinnen will der Christdemokrat offenbar mit einer Wohlfühl-Agenda ohne große Zumutungen. „Junge Leute sollen wissen: Wir tun alles für Klimaschutz“, erklärt Wüst. Direkt danach aber warnt der Ex-Verkehrsminister vor unbezahlbaren Benzinpreisen, fordert eine Erhöhung der Pendlerpauschale.
In einem Werbefilm, der die Delegierten überzeugen soll, redet Wüst über die „Vielfalt“ Nordrhein-Westfalens, die er repräsentieren will. Der Spot soll ihn als dynamischen Macher vorstellen – oft ist Wüst darin auf einem Fahrrad zu sehen. Auch in seiner folgenden Rede klingt er fast wie ein Sozialdemokrat: Natürlich verspricht Wüst bestmögliche Gesundheitsversorgung, bestmögliche Bildung. Warum in NRW Krankenhäuser trotz Pandemie geschlossen, warum ab Ende Februar selbst an Grundschulen nicht mehr auf Corona getestet werden soll, erklärt er nicht.
Überhaupt, die Pandemie: Die soll der Grund sein, warum seine CDU noch kein ausgearbeitetes Wahlprogramm präsentiert. Mitten in der Covid-Bekämpfung gebe es „kein Verständnis für Wahlkampf“. Geführt werden soll der nach Ostern „kurz und intensiv“, erklärt der CDU-Landeschef. Weiter steigen dürfte bis dahin auch sein Bekanntheitsgrad: Als Vorsitzender der Ministerpräsidenten-Konferenz ist Wüst medial viel präsenter ist als SPD-Mann Kutschaty.
99,1 Prozent Zustimmung
Den Christdemokraten reicht das. „Eine Jubelveranstaltung“ solle das Treffen in der Essener Grugahalle werden, hatten manche schon im Vorfeld erklärt. Jetzt gibt es Standing Ovations – um 11:28 Uhr ist Wüst mit 99,1 Prozent zum Spitzenkandidaten gewählt. Sichtlich erleichtert dankt der für das „super-starke Ergebnis“, das „zusätzlich Rückenwind“ gebe – und verspricht: „Wir rocken das Ding“.
Folgen sollte jetzt eigentlich Routine. Ginge es nach der Versammlungs-Regie von Generalsekretär Josef Hovenjürgen, würden die weiteren 132 Plätze der seit Wochen zwischen Kreis- und Bezirksverbänden und dem Landesvorstand ausgehandelten Landesliste schnell abgenickt. Doch das klappt nur bis Platz 11. Zwar werden so die Minister:innen für Heimat, Inneres, Soziales, Landwirtschaft, Verkehr und Finanzen ebenso abgesichert wie Fraktionschef Bodo Löttgen und Hovenjürgen selbst. Bei Platz 12 aber stört ein Delegierter mit Migrationshintergrund die ausgefeilte Inszenierung.
Mit einer Kampfkandidatur tritt hier der aus dem Duisburger Brennpunkt Marxloh stammende, eigentlich auf Rang 87 der Liste platzierte Deniz Güner ausgerechnet gegen Staatskanzleichef Nathanael Liminski an. Der galt einmal als „Mastermind“ Laschets. Doch nach dessen Niederlage ist Liminski nicht mehr unumstritten: Im Kampf um ein Direktmandat fiel er in seinem eigenen Heimatkreis Rhein-Sieg durch.
Erst im zweiten Anlauf konnte er sich eine Kandidatur im Wahlkreis Köln III sichern – und muss dort gegen die stellvertretenden Landtagsfraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen, Jochen Ott und Arndt Klocke, antreten. Echte Chancen auf ein Direktmandat hat Liminski deshalb nicht. Wenn er in den Landtag soll, braucht er die Absicherung über die Liste.
Doch Güner, dessen Name allein unter den vielen kandidierenden Laumanns, Winkelmanns, Hausmanns, Bergmanns und Schlottmanns auffällt, hält eine bemerkenswerte Rede. Nicht nur erinnert der mit drei akademischen Abschlüssen ausgestattete Betriebswirt als erster und einziger an den Mordanschlag von Hanau, bei dem ein Rassist vor genau zwei Jahren neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordete.
Unter fast betretenem Schweigen des Saals kritisiert Güner die größte Schwäche der nordrhein-westfälischen Christdemokraten, die schon feiern, dass 40 Prozent ihrer Liste mit Frauen besetzt ist: Die von Wüst zwar versprochene, aber fehlende „Vielfalt“ – also die offensichtliche Weigerung der CDU, auch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den Landtag bringen zu wollen.
„Lassen Sie uns gemeinsam daran denken, was es heißt, ein Abbild der Gesellschaft zu sein in einem Bundesland, in dem ein Drittel der Menschen einen Zuwanderungshintergrund hat“, mahnt der 43-jährige Güner. Zwar sei er gewarnt worden, dass er „die Harmonie“ störe. Trotzdem müsse sich „Vielfalt“ eben auch „numerisch“ abbilden. „Erschütternd“ sei doch, dass im Bundestag selbst die Migrant:innen-Quote der AfD höher sei als die der CDU.
Für den offenbar wegen einer Corona-Erkrankung abwesenden Liminski geht Wüst selbst in die Bütt. Der Spitzenkandidat wirkt plötzlich gar nicht mehr dynamisch-progressiv, sondern leicht verunsichert. Liminski sei vierfacher Vater, ein „totaler Familienmensch“, als „Chef der Staatskanzlei zentral für unsere Arbeit“, wirbt Wüst – und setzt sich durch: Für Liminski votieren 178, für seinen Herausforderer nur 47 Delegierte.
Dass Güner trotzdem mehr als einen Achtungserfolg erzielt hat, zeigt die dann folgende Abstimmung der Plätze 13 bis 132: Niemand der Kandidierenden bekommt weniger als 96 Prozent Zustimmung. Ausgerechnet der Staatskanzleichef hat mit 77,1 Prozent das mit Abstand schlechteste Ergebnis eingefahren. Mehr als 20 Prozent der Delegierten hat begriffen, dass sich Nordrhein-Westfalens Christdemokraten nicht länger als christlich-biodeutscher Club verstehen dürfen, wenn sie für Menschen mit Migrationshintergrund wählbar werden und das auch bleiben wollen.
„Als ich in die CDU eingetreten bin“, sagt Güner selbst dazu, „haben mich meine Freunde ausgelacht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“