Pandemiekinder im Alltag: Verstehen oder verurteilen

Im Alltag mit Kindern wird man häufig mit der Meinung anderer konfrontiert. Einige zeigen Verständnis, andere verurteilen Eltern sofort.

Ein Kind mit Spaghetti an der Nasenspitze

Jeder Mensch entscheidet selbst, ob er verurteilen will oder verstehen Foto: Robijn Page/imago images

Letztens waren wir das erste Mal mit dem Baby im Restaurant. Der Kleine, der bald ein Jahr alt wird, musterte mit großen Augen den Raum. Ein Pandemiebaby. Er kennt keine Restaurants, keine Kindercafés, keine Krabbelgruppen, keine Menschenansammlungen. Vor ein paar Wochen sind wir zum zweiten Mal in seinem Leben Bus gefahren. Ich hatte ihn in der Trage, weil ich dachte, das wäre einfacher als mit dem Kinderwagen. War es nicht. Denn er fremdelt. Wenn ihm Fremde zu lange in die Augen gucken, heult er los wie eine Sirene.

Also stand ich da im vollen Bus, das brüllende Baby an mich geschnallt, während Leute ihm mitleiderfüllt tief in die Augen sahen, was ihn nur dazu bewegte, tief Luft zu holen und eine Oktave höher und noch lauter zu brüllen. 15 Stationen. Mir klingelten die Ohren. Ich hab gesummt und gewippt, aber ich war machtlos. Überall Augen. Eine Frau sah mich an, als wäre ich die schlechteste Mutter der Welt. Ich lächelte sie an, sie sah weg. Nun gut, dachte ich, jeder Mensch entscheidet selbst, ob er verurteilen will oder verstehen. Auch da ist man machtlos.

Wir sitzen also in diesem Restaurant und das Baby sieht staunend die Menschen an. Als ihm eine Frau freundlich zuwinkt, schicke ich lächelnd ein Stoßgebet ans Universum, dass das nicht endet wie im Bus. Der Vierjährige rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her und als der Kellner kommt platzt es viel zu laut aus ihm raus: „Ich will Nudeln mit Tomatensoße!“ Wir haben uns zuvor auf der Zeit-Hunger-Achse verkalkuliert, weshalb er schon bockig war, während wir noch in der Sonne spazieren wollten. Dann hat er sich mit dem Radlenker auch noch in einen Maschendrahtzaun gefädelt und ist im Matsch gelandet, die Stimmung auf dem Tiefpunkt.

Also ab ins Restaurant. Wir hatten kein Buch dabei, keine Malsachen, kein Tablet. Wie blutige Anfänger. Zum Glück hatte der nette Kellner ein Malbuch und ein paar Stifte, so war der Vierjährige – bevor und nachdem er die Nudeln eingeatmet hat – beschäftigt und wir konnten einen Moment verschnaufen. Ich saß da und dachte, wie sehr ich das vermisst habe.

An diesen Moment musste ich vor einigen Tagen denken, als ich auf Instagram einen Ausschnitt der Talkshow „deep und deutlich“ sah. Da echauffierte sich der Comedian Faisal Kawusi, Kinder würden heute in Restaurants alle an Tablets hängen und sogar auf dem Spielplatz einen Helm tragen. Das ist insofern bemerkenswert, weil Eltern in wenigen Minuten gleichzeitig pauschal verurteilt werden, weil sie sich nicht um ihre Kinder kümmern (Verwahrlosung am Tablet) und weil sie sich zu sehr kümmern (Helm auf dem Spielplatz).

Hätte er sich damit beschäftigt, wüsste er, dass Helme auf Spielplätzen eigentlich verboten sind, weil Kinder so beim Toben mit dem Kopf hängen bleiben könnten und, dass es Kinder gibt, die dennoch einen tragen müssen. Aber es ist natürlich viel schnittiger zu verurteilen, anstatt zu verstehen. Da ist man machtlos.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Schreibt über Gesellschaft, Politik, Medien und manchmal über Österreich. Kolumne "Kinderspiel". War 2013 Volontärin der taz panter-Stiftung, dann taz-Redakteurin. Von 2019 bis 2022 Ressortleiterin des Gesellschafts- und Medienressorts taz zwei. Lebt und arbeitet in Wien.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.