Portugal nach der Wahl: Grüße von links unten

In Portugal haben die Sozialisten die absolute Mehrheit erlangt. Vom linkesten Land Europas müsse dennoch niemand schwärmen.

Straßenszene aus Lissabon

Lissabon ist Sehnsuchtsort vieler Leute. Auch in der Pandemie Foto: Jorge Mantilla/NurPhoto/imago

PORTO taz | Vor ein paar Tagen hat eine Redakteurin der taz mich kontaktiert und mir gesagt, dass sie mich beneide. Wir kennen uns über Facebook, ich fragte sie: „Warum?“ Sie begann zu schwärmen: Portugal sei ihr Lieblingsland, nicht nur, weil dort fast immer die Sonne scheine, sondern auch, weil „die Leute“ ihr immer so gelassen vorkämen. „Man hört nichts von rassistischer Gewalt bei euch, ihr streitet nicht über Corona und nun habt ihr auch noch eine topmoderne sozialistische Regierung. Ihr lebt im linkesten Land Europas – ein Traum!“, sagte sie und bat mich, einmal aufzuschreiben, was das „portugiesische Geheimnis“ sei.

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Ich weiß nicht, ob es solch ein Geheimnis gibt. Ich weiß nur, dass ich aus den gleichen Widersprüchen bestehe wie mein Land – und dass ich dieses Land trotzdem oder gerade deshalb mag. Es ist wie mit einem Kunstwerk: Man kann es nur schwer erklären, besser man genießt es einfach.

„Portugals Sozialisten erringen die absolute Mehrheit“, meldeten Anfang dieser Woche internationale Medien, auch die taz. Tatsächlich hat unser Premierminister António Costa mit seiner PS, der Partido Socialista, nun alle anderen Parteien aus dem Feld geschlagen. Doch ich habe keineswegs das Gefühl, in einem „sozialistischen“ Land zu leben. Denn bei der PS handelt es sich bloß um eine Variante dessen, was man in Deutschland „Sozialdemokratie“ nennt. Während unsere „Sozialdemokraten“ von der Partido Social Democrata (PSD) dem konservativ-liberalen Lager zuzurechnen sind.

Die wirklich „linken“ Linken, der Linksblock (BE) und die Kommunisten (PCP), haben im Herbst gegen Costas Haushaltspläne gestimmt, sie stritten etwa für höhere Löhne und Renten. Jetzt haben jene Kräfte an Einfluss verloren, und nicht nur ich bin besorgt, dass unsere sogenannten Sozialisten weiter gen Mitte-rechts driften, als sie ihrem Namen nach sollten.

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und wuchs mit meiner alleinerziehenden Mutter in einer Kleinstadt im Norden des Landes auf. Die portugiesischen Verhältnisse sahen exakt einen Weg für mich vor: Ich würde eine öffentliche Schule am Stadtrand besuchen, bis zum allgemeinen Abitur, und danach gleich arbeiten gehen. So geschah es dann auch. Irgendwie gelang es mir, mit verschiedenen Jobs über sechs Jahre so viel zu sparen, dass ich mich doch noch an einer Hochschule einschreiben konnte, an unserer ältesten Universität in Coimbra.

Dort habe ich Journalismus studiert – etwas, das es in Portugal heute eigentlich gar nicht mehr gibt. Es existieren noch Zeitungen, Magazine und Sender. Aber wenn ich die mit internationalen Medien vergleiche, stelle ich fest, dass der Beruf, von dem ich immer geträumt habe, in meinem Land noch schneller gestorben ist als anderswo in Europa. Die Gehälter sind so dürftig, dass man kaum davon leben kann. Ich kenne eine Menge gut ausgebildeter Leute wie mich, auch viele Lehrer, und die meisten von uns rutschen früher oder später in eine moderne Art von Elend: ständige Existenzsorgen, dauernde Unsicherheit, trotz aller Anstrengungen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Besten der Besten schaffen es, in anderen Branchen unterzukommen, von denen sie etwas angenehmer leben können. Vielleicht gehen sie dafür sogar in ein anderes Land. Die Mittelmäßigen und weniger Mutigen bleiben in den Redaktionen und Schulen hocken und krebsen dort frustriert herum. Es ist klar, wer dabei verliert: die portugiesische Gesellschaft, vor allem die nachwachsenden Generationen.

Ich arbeite inzwischen in der Presseabteilung eines Möbelherstellers. Ja, ich habe in meinem Büro buchstäblich eine ganze Fabrik unter meinen Füßen. Physisch betrachtet stehe ich also eine Stufe über den Arbeitern, aber moralisch und sozial bin ich auf demselben Level wie sie. Ich esse mit ihnen an denselben Tischen in der Kantine und treffe mich mit ihnen in den Pausen, verstehe mich als einer der ihren und habe großen Respekt vor ihnen. Mit ihren Händen erschaffen sie Sideboards und Schreibtische, die für 5.000 Euro verkauft werden. Keiner von uns könnte sich solch ein Stück leisten. Am Ende des Monats habe ich netto knapp tausend Euro in der Tasche. Ich möchte nicht, dass mein Gehalt steigt, ohne dass auch die niedrigsten Löhne steigen. Aber ich weiß, dass die Mehrheit nicht unbedingt so denkt.

Die Lebensplanung liegt auf Eis

Ich weiß ganz genau, wo ich herkomme – aber nicht so genau, wo ich hingehe. Mit Anfang vierzig sollte ich nun langsam mal anfangen, über Kinder nachzudenken. Aber was bedeutet es, Kinder zu haben, wenn man weiß, dass die Erziehung und Fürsorge, die man ihnen geben könnte, letztlich weniger zählen als der Stallgeruch, den sie brauchen, damit sich ihre beruflichen und persönlichen Wünsche erfüllen?

Viele aus meiner und der jüngeren Generation haben ihr Leben bis auf Weiteres auf Eis gelegt – wegen der Ungewissheit, was an Risiken und Belastungen noch so alles auf sie zukommen mag, vor allem auch wegen der massiv steigenden Wohnungspreise, insbesondere in den Städten. Manche suchen im Ausland nach besseren Lebensbedingungen. Mitteleuropa und Großbritannien sind heute die Hauptziele für IT-Leute, Ingenieure, Architekten, Krankenschwestern, Ärztinnen und Ärzte.

Der portugiesische Gesundheitsdienst hat einen guten Ruf, wir können uns auf ihn verlassen, weil die dort Beschäftigten auch unter schwersten Bedingungen, wie jetzt in der Pandemie, hervorragende Arbeit leisten. Manche sagen, die Privatisierung würde die Dinge verbessern, „der Markt“ werde dann alles regeln, aber ich glaube nicht, dass diejenigen, die in Kliniken arbeiten, sich das wünschen.

Im Allgemeinen haben die Portugiesinnen und Portugiesen nämlich eine sehr starke Vorstellung vom Gemeinwohl. Sie schaffen es immer wieder, sich für kollektive Themen zu interessieren und, wenn es darauf ankommt, als Gemeinschaft zusammenzuhalten. Die Impfungen gegen Covid-19 sind ein sehr gutes Beispiel dafür: Obwohl es auch bei uns Skeptiker gibt, wurde ihre Zahl nie so groß, nie so laut oder gar gewalttätig wie in anderen europäischen Ländern. Die große Mehrheit hat die Wichtigkeit der Pandemiespielregeln schnell verstanden und akzeptiert. Das ist ein gutes Gefühl.

In Portugal ist die Idee vom Gemeinsinn groß

Ein Talent zum kollektiven Gehorsam zeichnet uns Portugiesen aus. Obwohl das hart klingt und auch für mich nur schwer zuzugeben ist. Als Gesellschaft tun wir letztlich, was uns gesagt wird – jedenfalls wenn es nützlich und vernünftig erscheint, um unser Gemeinwohl zu schützen. Das hat sehr gute Seiten, siehe die Impfungen. Ähnlich lief es allerdings auch 2011 in der Eurokrise, als die Finanztroika Portugal eines der schärfsten Austeritätsprogramme aufzwang: Wenn es notwendig ist, um uns vor Drohungen aus dem Ausland zu schützen, fügen wir uns erst mal und akzeptieren auch knallharte Maßnahmen – so wie es unsere damalige konservativ-liberale PSD-Regierung wollte. Aber wir akzeptieren solche Regeln nicht für immer. Nur solange sie unbedingt nötig sind.

Ich weiß ganz genau, wo ich herkomme – aber nicht so genau, wo ich hingehe

Einige der Sparmaßnahmen sind bis heute zu spüren, es besteht eine unterschwellige Angst, dass die Austerität zurückkehrt. Viele, die zuvor radikal linke Parteien gewählt haben, stimmten jetzt für António Costas gemäßigte PS, um einen Sieg der Konservativen, Liberalen und noch weiter Rechten zu verhindern. Wir nennen das eine „nützliche Abstimmung“, eine Vernunftwahl. Andererseits ist unser Regierungschef tatsächlich ziemlich beliebt. Seine Regierung hat die Pandemiekrise gut gemeistert, auch mit sozialen Hilfsprogrammen, die auf Ideen von weiter links beruhen.

Vor allem haben viele nun Angst vor den zwölf Abgeordneten, die für die Chega ins Parlament eingezogen sind. „Chega“ bedeutet so viel wie: „Jetzt sind wir dran!“ Vom Ausland betrachtet, mögen die wie gut organisierte Rechtsex­treme wirken. Ich halte sie eher für eine Ansammlung von Dummköpfen: Sie schwelgen in Nostalgie für eine Zeit, über die sie oft nur wenig wissen, unsere Nelkenrevolution gegen das Salazar-Regime liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Sie sind frustriert von ihren Lebensbedingungen, ohne nach den wirklichen Ursachen zu fragen, und äußern sich rassistisch, ohne genau zu wissen, welche Gene in ihnen selbst stecken. Die portugiesische Gesellschaft ist ja, auch wegen ihrer kolonialen Vergangenheit, eine vielfarbige, wenn man das so sagen kann.

Diejenigen, die jetzt plötzlich auf die Chega-Rechte anspringen, sind im Wesentlichen neidisch, auf alles und jeden, vor allem auf diejenigen, die ein bisschen mehr wissen, die in unseren Schulen etwas besser aufgepasst haben. Jetzt, wo sie eine Partei haben, die ihnen mit ihren dumpfen Gefühlen eine Stimme zu geben scheint, machen sie eben dort ihr Kreuzchen. Auch das ist Demokratie. Aber es ist nicht Portugal.

Neo-Snobs halten nicht so viel von sozialer Gerechtigkeit

Viel gefährlicher ist eine ganz andere Kluft: Auch bei uns existiert eine Klasse, die meint, dass wir es mit der sozialen Gerechtigkeit nicht übertreiben sollten. Sie sind zuletzt wieder lauter geworden. Die gefährlichsten Ex­tremisten tragen heute Sneakers und Designersakkos und sind meist in Lissabon oder Porto anzutreffen. Portugiesen mit niedrigeren Gehältern werden nun machtvoll aus den Städten vertrieben, sie können die exorbitanten Mieten nicht mehr bezahlen und bekommen wegen ihrer instabilen Einkommen auch kaum noch an Baukredite, auch nicht auf dem Land.

So schön es ist, wenn Leute aus der Ferne von Portugal schwärmen: Viele kommen mit falschen romantischen Fantasien vom „einfachen Leben“ hier her, als Touristen, oder sie kaufen gleich Immobilien. Ich kenne einige Deutsche, die dauerhaft hier bleiben wollen und für die es anfangs ernüchternd war. Vor allem mit dem hiesigen Mangel an kulturellem Leben tun sie sich schwer. Es fällt ihnen nicht leicht, die portugiesische Lebensweise zu verstehen, die geringe Produktivität, die niedrigen Löhne und den bescheidenen Lebensstandard.

Dennoch bleiben sie oder kommen immer wieder. Etwas scheint sie hier doch zu faszinieren – so wie es mich fasziniert. Wahrscheinlich dauert es mindestens 40 Jahre, um halbwegs zu kapieren, wie dieses Land am linken unteren Rand von Europa funktioniert, 40 Jahre, um zu lernen, wie man weniger produktiv wird und öfter die Sonne genießt. Und um zu verstehen, dass „Sozialismus in Portugal“ nicht unbedingt „Sozialismus“ bedeutet.

Übersetzung Katja Kullmann

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