Rimini Protokoll im Berliner HAU: Jenseits der Sicherheiten
Uraufführung im HAU: „All Right. Good Night.“ behandelt unter anderem das Verschwinden der MH370 und ist ein Requiem über Verlust.
Verschwinden kann ein mühseliger Prozess sein. Etwa zweieinhalb Stunden lang erzählen die Regisseurin Helgard Haug aus dem Regiekollektiv Rimini Protokoll und die Komponistin Barbara Morgenstern mittels Videoprojektionen und Einsatz von fünf Livemusikerinnen und -musikern des Zafraan Ensembles von einem doppelten Verschwinden.
Zum einen geht es um ein vermisstes Flugzeug: Jene Boeing 777 von Malaysia Airlines, die in den Morgenstunden des 8. März 2014 von den Radars der Flugsicherung verschwand und von der Jahre später nur kleine Trümmerteile an weit voneinander entfernten Orten angespült worden waren. Das andere Verschwinden ist das von Haugs Vater. Bei ihm begann, ungefähr zum Zeitpunkt der Flugzeugkatastrophe, das dementiell verursachte Absterben von Gehirnzellen.
„All right. Good Night“ verschränkt das langsame Absinken des Vaters in die dunklen Gefilde der zerlöcherten Identität mit der anfangs hektischen, zunehmend verzweifelten und schließlich ergebnislos abgebrochenen Suche nach dem verschwundenen Flugzeug.
Die Idee ist brillant. Das kleine, individuelle, aber doch weit verbreitete Unglück – von mehr als 55 Millionen Demenzkranken weltweit geht die WHO aus – wird mit der größten singulären Katastrophe der zivilen Luftfahrt verknüpft. 239 Menschen, davon 12 Besatzungsmitglieder, fielen ihr zum Opfer. Protagonisten sind aber weniger die Verschwundenen, oder, im Falle des Vaters, der Verschwindende, sondern die, die zurückbleiben. Sie sind die Suchenden, sind die, die die Fragen stellen.
Die Sicherheit der Routinen
Mit Fragen beginnt auch der Abend im Berliner Hebbel-Theater. Fielen bei Luftdruckabfall tatsächlich die Sauerstoffmasken von oben herunter, wie es Stewardessen und Stewards so oft bei Flugbeginn ankündigen? Stülpten sich die Erwachsenen zuerst die Masken über und sorgten sich dann um die Kinder?
Die Fragen zielen letztlich danach, ob im Verlaufe des Ungewöhnlichen die Routinen, die für diesen Fall gefordert sind, auch ausgeführt werden. Unsere auf Rationalität getrimmte Welt geht im Digitalen wie im Analogen schließlich davon aus, dass das Unnormale, das Ungewöhnliche beherrschbar bleibt, wenn es nur gut genug in kleine, selbst beherrschbar scheinende Fragmente zerlegt wird.
Ob die Routineprozeduren im Falle von MH370 griffen, ist nicht nachvollziehbar. Die Maschine wurde nicht gefunden. Aufzeichnungen aus dem Inneren der Kabine sind nicht bekannt.
Beim Vater von Haug lässt sich über den Text, den die Tochter schrieb, und der zur Musik des Liveensembles an zwei Projektionswände gebracht wird, das Scheitern vieler Miniroutinen konstatieren. Der Vater, sein ganzes Leben lang mit perfektem Orientierungssinn ausgestattet, verläuft sich jetzt im Wald. Er erkennt die eigene Tochter nicht mehr. Es ist nicht einmal klar, ob er das eigene Haus, das er vor Jahren klarsichtig zu einer Demenz-WG umbauen ließ, noch erkennt, als er vom Altenheim dorthin gebracht wird, um eine Art Probebesuch zu absolvieren.
Realität als kollektive Vereinbarung
„All Right. Good Night“ ist allerdings nicht nur eine Chronik des Niedergangs. Das sich zersetzende Gehirn des Vaters spielt ihm – und seiner Umgebung – tolle Streiche. Er imaginiert sich als Leiter des Altenheims, befördert Pflegekräfte, die er als gut empfindet. Solange sich die anderen darauf einlassen, einlassen können – sei es aus Gnade, aus Verzweiflung, aus Gleichgültigkeit – ist alles gut.
Realität ist vor allem eine kollektive Vereinbarung. Das wird in solchen Momenten deutlich. Aus der kleinen Demenzblase, in der alle eine bestimmte Rolle spielen, lässt sich erahnen, wie sich alternative Realitäten verfestigen, wie Theorien über Verschwörungen lebensleitend werden können.
Vielfältige Verschwörungstheorien umranken auch den mysteriösen letzten Flug von MH370. In den Verknüpfungen und Zwischenräumen dieser beiden Ereignisse entsteht ein faszinierender Assoziations- und Emotionsraum. Eine gute Entscheidung ist, diesen Raum nicht mit Performerinnen und Performern, also Verkörperungen von Individuen, zu besetzen. Nur die Musik ist Träger der Emotionen.
Rimini Protokoll, „All right. Good night“, läuft bis 21. 12. im HAU 1, Hebbeltheater in Berlin.
30. – 31. März 2022 im Volkstheater Wien.
Mehr unter www.rimini-protokoll.de
Leider ließ sich Komponistin Morgenstern von der für freie Gruppen ungewöhnlich opulenten Besetzung zu orchestraler Breite hinreißen. Nur selten spiegeln ihre Kompositionen die Fragilität des zerfallenden Gehirns und die Vergeblichkeiten der Suchbewegungen wider. Zu oft blähen sie sich zu cinemascopischer Dimension auf, versteigen sich gar zum Trost.
Die Lücken, die Unsicherheiten, denen sich dieser Abend anfangs stellt, werden so zugekleistert. Ein Renner auf Festivals dürfte die Arbeit gerade deshalb aber werden. Denn Differenzen tatsächlich auszuhalten, gehört nicht zu den Stärken der aktuellen Bewohnerinnen und Bewohner des Abendlandes.
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