Studie zu Armut trotz Arbeit: Aufstocken könnte wegfallen

Hunderttausende sind trotz Job auf Hartz IV angewiesen. Manche Pläne der neuen Regierung könnten helfen – andere könnten das Problem verfestigen.

Eine Frau sitzt mir ihrem Kind im Homeoffice vor einem Tisch mit Rechner

Besonders Alleinerziehende sind laut Studie häufig von Armut betroffen Foto: Julian Stranteschulte/dpa

BERLIN taz | Es gehört zu den hartnäckigen Mythen der Sozialstaatsdebatte, dass Hartz-IV-Empfänger „faul“ seien – und nicht arbeiten wollen. Die Realität sieht anders aus. Knapp jeder fünfte Leistungsbezieher (knapp 860.000 Menschen) geht aktuell einer Erwerbstätigkeit nach, wie eine am Mittwoch veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Betroffene verdienen in ihren Jobs so wenig Geld, dass der Staat das klägliche Gehalt auf das ohnehin mit allerlei Tricks klein gerechnete soziokulturelle Existenzminimum anheben muss.

Die knapp 90-seitige Studie beschreibt detailliert die Strukturmerkmale der so genannten „Aufstocker“. Demnach übt fast die Hälfte (46 Prozent) aller erwerbstätigen ALGII-Bezieher einen Minijob aus. Unter allen Aufstockern sind mehr als drei Viertel (76 Prozent) im Niedriglohn-Sektor tätig. Besonders alleinerziehende und ihre Kinder sind in diesem Zusammenhang häufig von Armut betroffen. 20 Prozent der Kinder, deren alleinerziehende Mutter dauerhaft in Teilzeit oder geringfügig erwerbstätig sind, erlebten laut Studie dauerhafte Armut.

In der Coronapandemie ist der Anteil der Aufstocker allerdings zurückgegangen. Im Jahr 2019 lag er laut Bertelsmann-Stiftung noch bei mehr als 26 Prozent. Im Jahr 2021 seien es 22 Prozent gewesen. Allerdings bedeutet der Rückgang vor allem, dass in Minijob-Branchen wie der Gastronomie Corona-bedingt Arbeitsplätze wegfielen – und nicht, dass es Betroffenen gelungen wäre, einen Job zu finden, der die Abhängigkeit vom Jobcenter beendet.

Eine ebenfalls in der Studie enthaltene Langzeit-Analyse zeigt auch für die Vor-Corona-Zeit, dass Aufstocker meist länger auf Hilfen angewiesen bleiben. Zwischen 2010 und 2019 benötigten im Durchschnitt knapp 56 Prozent der Aufstocker auch im Folgejahr Unterstützung vom Jobcenter. Nur 20 Prozent gelang der Übergang in Jobs über Grundsicherungsniveau.

Minijobs als „Armutsfalle“

Die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Hartz-Reformen haben einen harten Kern von Arbeitnehmern geschaffen, die dauerhaft zu wenig verdienen. Unter anderem die Bertelsmann-Stiftung gilt übrigens als Ideengeber für die damaligen Hartz-Reformen.

Wie kann die Politik die Lage der „Working Poor“ verbessern? Die von der Ampel-Regierung geplante Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro würde die Sozialausgaben für Aufstocker reduzieren, prognostiziert etwa der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. Die Autoren der Bertelsmann-Studie befürworten zudem die von den Grünen in den Koalitionsvertrag eingebrachte Kindergrundsicherung.

Kritisch sehen sowohl die Studienautoren als auch Sozialverbände allerdings die angepeilte Ausweitung der Minijobs. Diese „fördern nicht den Einstieg in den regulären Arbeitsmarkt, sondern sind zu einer Armutsfalle für viele Menschen geworden“, sagte etwa VdK-Präsidentin Verena Bentele.

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