Festjahr für 1700 Jahre jüdisches Leben: Vor allem Gedächtnistheater

Derzeit läuft das Festjahr für 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Doch unterstützt werden vor allem Projekte für nichtjüdisches Publikum.

Frank-Walter Steinmeier steht mit Kippa an einem Redepult

Wer feiert hier was? Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zum Auftakt Foto: Guido Bergmann/dpa

In blauer Farbe prangte ein beträchtlicher Davidstern seit Oktober 2020 auf den Straßenbahnen in Köln, daneben stand in großen Lettern: Schalömchen Köln. „Die Bahn ist ein klares Bekenntnis zu unseren jüdischen Kölnerinnen und Kölnern“, zitierte die Jüdische Allgemeine Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur Einweihung der Stadtbahnen. Es waren Vorboten des freudigen Festjahres, das auf uns zurollen sollte: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.

Gefeiert werden sollte das Jubiläum eines Dekretes, das Kaiser Konstantin im Jahr 321 erlassen hatte. Das Gesetz erlaubte Juden, städtische Ämter zu bekleiden, und gilt als historischer Beleg für die jahrhundertelange Existenz von Jüdinnen und Juden in Mitteleuropa. Heute dient die Schrift als Anlass, die Geschichte und Kontinuität jüdischen Lebens in Deutschland zu feiern.

Ich stand dem Festjahr von Anfang an eher skeptisch gegenüber. Relativ früh erfuhr ich von dem Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e. V.“ und damit der Möglichkeit, Projektanträge für Förderungen zu stellen. Der Fonds sei sehr hoch und stünde dezidiert für jüdische Themen zur Verfügung, hieß es. Zu dem Zeitpunkt war ich die erste Vorsitzende von TaMaR Germany e. V., dem ältesten progressiv-jüdischen Verein für junge Erwachsene in Deutschland.

So informierte ich mich über die Förderbedingungen und bekam dabei den Eindruck, dass eine Projektförderung nur mit einer gewissen Außenwirkung möglich war – also für Projekte, in denen jüdisches Leben oder Themen einem (nichtjüdischen) Publikum präsentiert werden. Für Projekte von TaMaR Germany, die darauf abzielen, jüdische Safe Spaces auf- und auszubauen und bei denen die Bedürfnisse der jüdischen Teilnehmenden priorisiert werden, waren die Förderungen offenbar nicht vorgesehen.

Wer feiert hier was?

Dies verstärkte meine Skepsis bezüglich des Festjahres. 1700 Jahre, was soll das eigentlich bedeuten? Kann es überhaupt wirklich etwas bedeuten, in einem Land, das vor weniger als 100 Jahren die Shoah zu verantworten hatte? Für wen hat diese abstrakte Zahl eine Bedeutung, und wer feiert hier was? Ist es eine Feier für jüdisches Leben auf „deutschem Boden“, eine Feier des Über- oder Belebens? Der Rückkehr?

Anfang 2021 wurden die dem Festjahr gewidmeten Förderprojekte veröffentlicht. Beim Durchscrollen der Webseite wurde mir schnell deutlich, dass das Programm in der Tat überwiegend an ein nichtjüdisches Publikum adressiert war: Jüdisches Leben wird erklärend vorgestellt, Videoclips mit Puppen informieren niedrigschwellig über jüdische Feiertage. Nach dieser Feststellung sank mein Interesse an diesem Festjahr gegen null, es hatte nichts mit meiner Lebensrealität zu tun und tangierte nicht die Fragen, die mich oder mein jüdisches Umfeld beschäftigen.

Sicherheitsgefühl gesunken

Einige Monate später, im Mai, eskalierte die Situation im Nahen Osten und sie eskalierte in Deutschland, zunächst im Internet und wenig später auf der Straße. In dem Jahr, in dem 1.700 Jahre jüdisches Leben gefeiert werden, sank mein Sicherheitsgefühl und das vieler anderer auf ein neues Minuslevel. Wir mussten erleben, wie massenhaft delegitimierende Inhalte gegen Israel verbreitet wurden und sich insbesondere über soziale Medien eine als „Israelkritik“ tarnende Hetzkampagne entfachte. Dass über Jahrhunderte kultivierte, internalisierte antisemitische Tropen und jüdische Feindbilder Hintergrund und Treibkraft des Ganzen sind, wird und wurde nur von Einzelnen reflektiert, und was bleibt, bis heute, ist ein anhaltendes Entsetzen und ein tiefsitzendes Unruhegefühl.

Der von der Melde- und Dokumentationsstelle antisemitischer Vorfälle RIAS Berlin kürzlich veröffentlichte Bericht für die erste Hälfte des Jahres 2021 bestätigt diesen Eindruck mit ihren Daten: „Allein im Mai dokumentierte das Projekt 211 antisemitische Vorfälle – so viele wie in keinem anderen Monat seit Beginn der systematischen Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Berlin seit 2015.“ In der Analyse wird ein klarer Zusammenhang zwischen der hohen Anzahl antisemitischer Vorfälle und der zeitgleichen Eskalation im Nahostkonflikt deutlich.

Hohe Bedeutung der „Querdenker“

Die Auswertung belegt auch die Bedeutung der „Querdenker“-Demonstrationen als einen weiteren Herd für verstärkte antisemitische und Shoah-revisionistische Äußerungen. Sie verweist darauf, dass fast 15 Prozent aller antisemitischen Vorfälle im ersten Halbjahr in Bezug zu sogenannten Anti-Corona-Protesten stehen. Die „Querdenker“-Bewegung und die damit einhergehende Debatte darüber, ob es vertretbar sei, mit offen rechtsradikalen Gruppen und Nazis gemeinsam zu demonstrieren, entspannten das bereits erwähnte nagende Unruhegefühl nicht.

Waren die bisher beschriebenen Ereignisse Zustände, die mir bereits bekannt vorkamen, so kam es im Sommer 2021 zu einer, zumindest in meiner Wahrnehmung, Premiere in deutschen Feuilletons. Der jüdische Status des Autors Max Czollek wurde flächendeckend diskutiert. Ungeachtet der Tatsache, dass die Frage nach jüdischer Zugehörigkeit gemäß der Halacha bereits seit Jahrzehnten in jüdischen Gemeinden und Kreisen debattiert wird, war es doch besonders unangenehm zu beobachten, wie sich diejenigen, die vermutlich gestern zum ersten Mal von der Halacha hörten, sich schon heute zu Ex­per­t*in­nen stilisierten. Besonders deutlich wurde dies in den Kommentarspalten und auf sozialen Medien, aber auch in einzelnen Meinungstexten.

Altbekanntes Dominanzverhalten

Das außerordentliche Interesse und die Aufmerksamkeit, die der innerjüdischen Uneinigkeit bezüglich dieses Themas zuteil wurde, hatte zunächst einen frischen Anstrich, da es sich um eine real existierende jüdische Debatte handelte, an der nicht-jüdische Menschen ein gesteigertes Interesse zeigten. Und das, obwohl es sich dabei ausnahmsweise einmal nicht um Israel, die Shoah oder Antisemitismuserfahrung handelte. Schnell blätterte das Neue ab und zeigte ein altbekanntes Dominanzverhalten, in dem die Nichtbetroffenen, in diesem Falle also nicht-jüdische Menschen, ihr vermeintliches Ex­per­t*in­nen­tum präsentierten. Es ist schlicht und ergreifend unangenehm, wenn nichtjüdische Deutsche bestimmen wollen, wer legitim jüdisch sei. Es weckt negative Erinnerungen.

Kürzlich teilte der Verein „321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e. V.“ die Verlängerung des Jubiläumsjahres mit, es geht also noch bis Mitte 2022. Wenn ich mir zum neuen Jahr etwas wünschen dürfte, dann, dass hiesige Redaktionen und Intellektuelle mindestens das gleiche Interesse und Engagement, wie sie es in der Halacha-Debatte gezeigt haben, an den Tag legen, wenn es zum Beispiel um das prekäre Leben in Altersarmut postsowjetischer Jü­d*in­nen in Deutschland geht.

Arbeitsjahre nicht anerkannt

Denn Deutschland erkennt die Arbeitsjahre aus ihren Herkunftsländern nicht an, weshalb viele auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind. Es ist ein politisches Problem, das einer politischen Lösung bedarf und auf die eine solidarische Gesellschaft mehr Einfluss nehmen kann als auf die Auslegung der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, auf der entschieden wird, ob nur diejenigen als jüdisch gelten, deren Mutter jüdisch ist.

Zu viel mehr als Symbolpolitik hat es auch in diesem Jahr leider nicht gereicht. Die Antwort auf die Frage, wer hier eigentlich was feiert und wozu, liegt für mich eher im Bereich des Gedächtnistheaters und in alteingesessenen Projektionen, als in einer aufrichtigen, differenzierten, auf Veränderung abzielenden Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland.

Denn wenn in dem Jahr, in dem jüdisches Leben im Mittelpunkt steht, die Zahl antisemitischer Vorfälle ansteigt, jüdische Lebensrealitäten weiter ignoriert und das Sicherheitsgefühl vieler radikal abnimmt, dann kann das Festjahr und dessen Ausrichtung nicht die wesentlichen Fragen gestellt und nicht an den richtigen Punkten angesetzt haben. Da macht auch eine Stadtbahn, die als Bekenntnis gelten soll, keinen Unterschied. Egal, in wie vielen deutschen Städten sie rollt.

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