Gewalttat im Oberlinhaus Potsdam: „Nur noch im Bett gelegen“
Beim fünften Prozesstag um den Tod von vier Menschen mit Behinderung in Potsdam sagten Angehörige der Opfer aus. Sie berichteten von Vernachlässigung.
Seit dem 26. Oktober wird vor dem Landgericht in Potsdam der mutmaßliche Mord an vier Menschen mit Behinderung in der Wohneinrichtung des Oberlinhaus Ende April 2021 verhandelt. Eine weitere Person mit Behinderung überlebte schwerverletzt. Als dringend tatverdächtig gilt die langjährige Pflegerin Ines R..
Am fünften Prozesstag wurden in Potsdam Angehörige von Opfern als Zeug*innen gehört. Sie berichteten vor dem Landgericht teilweise von einer starken Verschlechterung des Pflegezustands ihrer Angehörigen in den Jahren vor der Tat.
Zuletzt habe ihr Bruder bei Besuchen der Familie nur noch im Bett gelegen und nach Urin gerochen, sagte die Schwester von Andreas K. Ihm sei es aber wichtig gewesen, „fein“ zu sein, sie habe daher das Haare- und Nägelschneiden bei ihrem Bruder übernommen. Sie hatte vermehrt den Eindruck gehabt, dass „nichts mehr gemacht wird“. Zwei Wochen vor der Tat habe sie deshalb der Pflegeleitung mitgeteilt, dass sie mit der Behandlung ihres Bruders unzufrieden sei. Als Antwort auf ihre Kritik habe sie den Verweis auf fehlendes Personal erhalten.
Überlastung durch zu wenig Personal
Von dem Tod ihres Bruders habe sie dann durch die Polizei erfahren. Als sie die schreckliche Nachricht bekamen, habe die Familie nur „gesessen und geweint“, sagte die 62-jährige Oranienburgerin. Bis heute warte sie vergeblich auf einen Anruf des Oberlinhauses.
Auch der Onkel der getöteten Martina W., die durch die Gewalttat im Alter von 31 Jahren starb, berichtet von „katastrophalen Zuständen“ in der Pflegeeinrichtung seiner Nichte. Er habe sie bei Besuchen auch schon vor dem Ausbruch der Coronapandemie zuletzt nicht mehr im Rollstuhl, sondern nur noch im Bett angetroffen. Martina W. habe seit 2008 im Thusnelda-von-Saldern-Haus gewohnt.
Die Berichte der Angehörigen ähneln den Schilderungen einiger Mitarbeitenden der Wohneinrichtung, die bereits an den vorherigen Prozesstagen aussagten. Die Pfleger*innen berichteten vor Gericht von zu wenig Personal, weshalb sie sich gezwungen sahen, an manchen Tagen die pflegenden Tätigkeiten auf ein Minimum zu reduzieren. Dadurch sei es auch vorgekommen, dass Bewohner*innen einen Großteil des Tages im Bett verbrachten.
Hohe Fluktuation bei den Angestellten
Im fünften Prozesstag widersprachen jedoch auch zwei weitere Zeug*innen, ebenfalls Angehörige von Opfern, diesen Wahrnehmungen. Die Nebenklägerin und Mutter eines der Opfer, Christian S., sagte, dass der Zustand ihres Sohnes immer gut war, wenn die Angeklagte ihn gepflegt habe. Wie auch schon zuvor Kolleg*innen der Angeklagten, beschrieb sie die 52-jährige Ines R. als liebevoll und zugewandt. Es habe aber eine hohe Fluktuation beim Personal im Oberlinhaus gegeben.
Auch die Schwester der getöteten Lucille H., die zwei Kinder hinterlässt und nach einem schweren Unfall seit 2014 im Oberlinhaus wohnte, beschrieb, dass sie die Angeklagte mochte und vom Oberlinhaus einen guten Eindruck hatte. Den mehrfach vor Gericht geschilderten Personalmangel nannte die Zeugin normal. Sie kenne die hohe Belastung auch durch die Berichte ihrer anderen Schwester, die in der Pflege arbeite. Nach ihrer Aussage habe die Wohneinrichtung stets darauf reagiert, wenn die Familie Mängel bei der Pflege von Lucille H. kritisiert hatte.
Die Angeklagte Ines R. hatte am ersten Prozesstag von Überlastung bei der Arbeit gesprochen und von psychischen Problemen und Klinikaufenthalten berichtet. Die Staatsanwaltschaft geht bei ihr von einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit aus. In den kommenden Prozesstagen sollen Notärzte sowie weitere Mitarbeiter*innen des Oberlinhauses befragt werden. (mit epd)
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