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„Das Pflegepersonal ist chronisch überlastet“

In der Pandemie mangelt es nicht an Intensivbetten, sondern an Personal, sagt Gesund­heits­experte Michael Simon. Die Kliniken bräuchten ein neues Finanzierungssystem

Rar gewordene Expert:innen: Mitarbeitende auf der Intensivstation im Klinikum Fürth Foto: Daniel Vogl/dpa

Interview Jörg Wimalasena

taz: In elf von sechzehn Bundesländern belegen Covid-19-Pa­tien­ten auf Intensivstation derzeit weniger als 15 Prozent der Betten. Dennoch hört man vielerorts Sorgen vor Überlastung. Wieso können Krankenhäuser die erhöhte Zahl an Patienten nicht abfedern?

Michael Simon: Das sollte möglich sein, und die Bevölkerung erwartet das zurecht. Das Problem ist aber nicht die Zahl der Betten, wir haben in Deutschland im internationalen Vergleich sehr viele Intensivbetten.

Woran mangelt es dann?

Es mangelt vor allem an Pflegepersonal. Das Pflegepersonal auf Intensivstationen ist in vielen Kliniken seit Jahren chronisch überlastet, darauf haben auch Intensivmediziner in den letzten Jahren mehrfach hingewiesen. Wenn in dieser Lage eine Pandemie hinzukommt, verschärft dies die Lage erheblich. Patienten mit schwerem Covid-19-Verlauf sind teilweise extrem pflegeaufwendig. Da reicht zum Teil nicht mal eine Pflegekraft pro Patient, sondern man braucht mehr. Und wenn ohnehin schon zu wenig Personal vorhanden ist, reichen bereits wenige Tausend Covid-Intensivpatienten, um die Grenze der Belastbarkeit zu überschreiten.

Woran liegt denn dieser Personalmangel strukturell?

Es gibt seit mehr als 20 Jahren eine Unterbesetzung in weiten Teilen des Pflegedienstes, und als 2003 das DRG-Fallpauschalensystem eingeführt wurde, sind innerhalb weniger Jahre mehr als 30.000 Pflegestellen abgebaut worden. In der Folge sind mehrere Zehntausend Pflegekräfte aus den Krankenhäusern abgewandert. Das Problem holt die Krankenhäuser jetzt ein.

Inwiefern hängen Personalabbau und Fallpauschalen zusammen?

Die Fallpauschalen werden auf Grundlage der durchschnittlichen Fallkosten einer Stichprobe von Krankenhäusern kalkuliert. Dies führt dazu, dass Krankenhäuser, die eine überdurchschnittlich gute Personalbesetzung vorhalten, vom System mit Verlusten bestraft werden. Deshalb haben viele Kliniken in der Vergangenheit Pflegepersonal abgebaut. Kliniken, die am Personal sparen, werden mit Gewinnen belohnt.

Aber die Krankenhausfinanzierung wurde ja in dieser Hinsicht schon korrigiert. Der Pflegedienst basiert nicht mehr auf dem Fallpauschalensystem, nun gibt es bedarfsabhängige Pflegebudgets für das Personal. Reicht das nicht?

Die Pflegepersonalkosten sind seit 2020 aus den Fallpauschalen ausgegliedert und werden gesondert über ein Pflegebudget erstattet. Das ermöglicht nun die Einstellung zusätzlichen Personals, ohne dass deshalb ein Verlustrisiko entsteht. Aber mittlerweile ist es für die Kliniken schwierig, Pflegepersonal zu finden. Zudem verlassen offenbar zunehmend mehr erfahrende Intensivpflegekräfte die Intensivstationen. Deshalb kann ein erheblicher Teil der Intensivbetten nicht mehr belegt werden.

Was hätte die Bundesregierung unternehmen können, um bei der absehbaren vierten Coronawelle das Pflegeproblem zu lösen?

Das Wichtigste, was die Politik machen kann und was sie auch macht, ist zu versuchen, die Zahl der Infektionen zu verringern.

Der Vizepersonalratschef der Charité schlug einen steuerfreien 10.000-Euro-Bonus für Pfleger vor, die während der Pandemie ihren Job weiter ausüben, und Rückkehrprämien für Ex-Pfleger. Könnte man damit kurzfristig den Personalengpass bekämpfen?

Foto: privat

Michael Simon ist Autor des Standardwerks „Gesundheitspolitik in Deutschland“ und lehrte dazu bis 2016 an der Hochschule Hannover.

In der jetzigen Welle sind bislang nicht die Normalstationen das Problem, sondern die Intensivstationen. Und die Versorgung von Schwerkranken auf Intensivstationen ist eine Aufgabe, für die man Pflegefachkräfte mit zusätzlicher Quali­fikation und Erfahrung braucht. Intensivpflegekräfte müssen Be­atmungs­maschinen bedienen können und andere Geräte, die Patienten mit lebenswichtigen Medikamenten versorgen. Das stellt hohe Anforderungen an Pflegekräfte. Man kann nicht eben schnell aus der ambulanten Pflege oder einer Normalstation Personal holen und Beatmungsgeräte bedienen lassen. Das wäre für Patienten lebensgefährlich. Dazu brauchen Sie ausgebildetes und erfahrenes Intensivpflegepersonal. Und ­davon gibt es für die zur Ver­fügung stehenden Betten zu wenig.

Wie könnte man Krankenhäuser denn resilienter machen für die nächste Pandemie und auch im Allgemeinen?

Die Probleme des Finanzierungssystems werden durch Pandemien wie unter einem Brennglas deutlich. Ich plädiere für die Abschaffung der Fallpauschalen und für ein System, bei dem auf Basis der Selbstkosten der Krankenhäuser Budgets vereinbart werden.

Was ist diesbezüglich zu erwarten von der Ampel?

Die neuen Pflegebudgets haben es ermöglicht, dass 2019 im Vorgriff auf die Budgets mehr als 20.000 zusätzliche Pflegekräfte in Krankenhäusern eingestellt wurden. Für 2020 weist die Arbeitsmarktstatistik sogar einen noch höheren Zuwachs aus. Wenn die neue Koalition sich jedoch darauf einigen sollte, die Pflegebudgets wieder abzuschaffen, muss damit gerechnet werden, dass es eine erneute Welle des Stellenabbaus gibt und einen Exodus von Pflegekräften aus den Krankenhäusern. Insofern hoffe ich, dass die nächste Regierungskoalition die Pflegebudgets beibehält.

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