Urteil gegen Türkei: Letzte Chance Straßburg
Erdoğan wird das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs wohl ignorieren. Das hätte gravierende Folgen.
E rneut hat gestern der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg (EGMR) die Türkei verurteilt. Die massenhafte Inhaftierung von insgesamt 427 Richtern und Staatsanwälten im Anschluss an den Putschversuch im Sommer 2016 in Untersuchungshaft war rechtswidrig.
Für die türkische Regierung und insbesondere Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, gegen den sich der Putschversuch ja richtete, ist es erneut eine juristische Ohrfeige. Könnte man in Straßburg darüber befinden, würde wohl die gesamte justizielle Behandlung der über 50.000 Angeklagten im Anschluss an den Putsch als nicht rechtsstaatlich bewertet werden. Massenhaft, in Prozessen mit bis zu 500 Angeklagten, wurden Menschen, denen eine Nähe zur Gülen-Sekte unterstellt wurde, verurteilt, ohne dass überhaupt versucht wurde, ihnen eine individuelle Schuld nachzuweisen.
Dass die türkische Regierung das Urteil umsetzen wird und den Beschwerdeführern tatsächlich die verlangten 5.000 Euro Schadenersatz zahlen wird, ist höchst zweifelhaft. Erdoğan ist längst dazu übergegangen, Urteile des EGMR zu ignorieren. Dabei spielen vor allem zwei Fälle eine prominente Rolle: die des früheren Vorsitzenden der kurdisch-linken HDP, Selahattin Demirtas, der mittlerweile seit 5 Jahren in U-Haft sitzt, und der Fall des Kulturmäzens Osman Kavala, der seit gut 4 Jahren inhaftiert ist.
In beiden Fällen hatte der EGMR mehrfach die Freilassung gefordert, was von Erdoğan persönlich abgelehnt wurde. Als Ende Oktober zehn westliche Botschafter Erdoğan aufforderten, das EGMR-Urteil zu Kavala umzusetzen, kam es zu einem diplomatischen Eklat, bei dem Erdoğan sogar mit der Ausweisung der Botschafter drohte.
Selbst Russland machte Kompromisse
Schon zuvor hatte der Ministerausschuss des Europarates, dessen wichtigste Institution das Menschenrechtsgericht ist, der Türkei damit gedroht, falls Osman Kavala nicht bis zum 30. November freigelassen wird, ein Ausschlussverfahren aus dem Europarat einzuleiten. An diesem Freitag wird der Prozess gegen Osman Kavala fortgesetzt. Das ist die letzte Möglichkeit, Kavala aus der U-Haft zu entlassen, um noch einen Bruch mit dem Europarat zu vermeiden.
Jetzt muss sich zeigen, ob Präsident Erdoğan noch ein Interesse daran hat, mit europäischen Institutionen zusammenzuarbeiten, denn ein Rauswurf aus dem Europarat, den bislang selbst Russland und Aserbaidschan durch Kompromisse vermieden haben, würde auch für die Zusammenarbeit mit der EU nicht ohne Folgen bleiben.
Viele Menschen in der Türkei hoffen deshalb, dass Kavala freikommt – nicht nur wegen Osman Kavala selbst, sondern damit die Möglichkeit, sich an den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg wenden zu können, erhalten bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!