Neuanfang in Frankfurt an der Oder: Stadt der Hoffnungen

Frankfurt (Oder) steht gerade im Mittelpunkt der europäischen Migrationspolitik. Die Stadt ist von Umbrüchen gezeichnet.

Protestierende mit "Kein Mensch ist illegal"-Fahne auf einer Bücke in Frankfurt (Oder)

Willkommen in Frankfurt (Oder) Foto: dpa

FRANKFURT (ODER) taz | Als Ammar, Ibrahim und Kadir nach einer knapp 1.000 Kilometer langen Strapaze ihr Ziel erreichen, scheint in Frankfurt an der Oder die Sonne. Herbstliche Bäume säumen das Flussufer. Möwen ruhen sich auf dem Wasser aus. Vielleicht bellt irgendwo ein Hund. Vielleicht läuten die Kirchenglocken. Ammar, Ibrahim und Kadir, die aus Syrien kommen und eigentlich anders heißen, hören das nicht. Sie sind froh, als sie von der Bundespolizei aufgegriffen und in ein Industriegebiet am Rande der Stadt gebracht werden – zur Registrierung.

Seit der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko für Geflüchtete aus dem Nahen Osten Touristenvisa ausstellt, um sie als Druckmittel in die EU zu schleusen, steigt auch in der deutsch-polnischen Grenzstadt Frankfurt (Oder) die Zahl der Schutzsuchenden. Dort reagiert man bereits auf den „steigenden Migrationsdruck“, wie es im Beamtendeutsch heißt: Seit Anfang November ist die zentrale „Bearbeitungsstraße“ im Industriegebiet aktiv. Alle Geflüchteten, die in Brandenburg ankommen, werden hier erkennungsdienstlich behandelt, erstversorgt und anschließend zum Asylverfahren deutschlandweit auf die Gemeinden verteilt.

Ein paar Stunden nach ihrer Ankunft stehen die drei jungen Männer in jenem Industriegebiet und fragen nach dem Weg. Sie wollen in die Stadt, um ihre Dollars in Euro zu wechseln und Zigaretten zu kaufen. Ammar zeigt eine Schramme in seinem Gesicht. Ibrahim hat etwas am Hinterkopf abbekommen. Belarussische Polizisten hätten sie geschlagen und nach Polen gedrängt, erzählen sie. Auch wenn die Verletzungen nicht eindeutig und ihre Geschichten nicht überprüfbar sind, decken sie sich mit den Erzählungen anderer Geflüchteter, die über dieselbe Route nach Brandenburg gekommen sind.

Frankfurt (Oder) sei der zentrale Ort der Grenzübertritte, sagt Jens Schobranski, Sprecher der Bundespolizei Berlin-Brandenburg. Und so steht Frankfurt seit zwei Monaten im Mittelpunkt der europäischen Migrationspolitik: eine Stadt, die als europäische Doppelstadt einzigartig und von Umbrüchen gekennzeichnet ist, die schmerzhafte Einschnitte und Rückschläge verzeichnen musste – wo es aber gerade, so scheint es, bergauf gehen könnte.

Die Stadt bekommt Selbstbewusstsein

Ein paar Kilometer vom Industriegebiet entfernt liegt zwischen dem roten Backsteinhäusern und Plattenbauten – gegenüber der „Bierstube zur Molle“ – das Gemeindehaus St. Georg. Im ersten Stock serviert Pfarrerin Gabriele Neumann Kaffee und Kekse. Die Stimmung in Frankfurt beschreibt sie als optimistisch. Es beginne etwas in der Stadt zu wirken, sagt sie, das Menschen in Politik und Zivilgesellschaft angestoßen hätten.

„Man sieht, dass das Stadtbild schöner wird. Die Stadt bekommt Selbstbewusstsein“, sagt die 59-Jährige mit grauer Kurzhaarfrisur und blauer Bluse. Ein bisschen sorge sie sich jedoch, dass die Stimmung mit der sich zuspitzenden Migrationssituation umschlagen könne, auch wenn die Zuwanderung in der Realität gar nicht stark sei.

René Wilke von der Linkspartei ist seit 2018 Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder) und teilt diese Einschätzung: Lediglich 40 Geflüchtete müsse die Stadt nun zusätzlich aufnehmen. Das sei alles andere als eine „Flut“. „Das kriegen wir hin“, zeigt sich Wilke merkelhaft gelassen.

Viel wichtiger: Auch Wilke nimmt einen positiven Trend in der Stadt wahr. „Wir sind in einer Phase, in der Frankfurt sich aufrappelt, was mit gewisser Spannung und Skepsis, aber auch mit Hoffnung betrachtet wird“, erklärt Wilke am Telefon.

Besonders große Hoffnung setzt der 37-jährige Oberbürgermeister in das „Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit“: einen von der Bundesregierung geplanten Ort der Wissenschaft, Kultur und Begegnung. Laut dem Ostbeauftragten, Marco Wanderwitz (CDU), wird sich das Zentrum mit den Veränderungen der letzten 30 Jahren befassen, gleichzeitig aber auch ein „Brückenschlag in die Zukunft“ sein.

Frankfurt hat sich neben einigen anderen ostdeutschen Städten beworben und wäre laut Wilke der perfekte Standort. Er weiß allerdings auch um die ambivalente Geschichte seiner Stadt – und dass es nicht einfach ist, den Menschen noch Hoffnung zu machen.

In der DDR war das Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) der größte Produzent von Mikroelektronik. Die Stadt mauserte sich zum Industriestandort, zog Arbeitskräfte an und das Stadtleben florierte.

Doch mit der Wende war es damit vorbei. Durch die Privatisierung der Treuhand waren die 8.000 Arbeiterinnen und Arbeiter des Halbleiterwerks schlagartig arbeitslos. Bei einer Bevölkerung von damals 88.000 war das jeder Elfte. Seitdem wurde die Einwohnerzahl immer kleiner und die Enttäuschung wuchs. Der Versuch, die Industrie mit einer Chipfabrik wiederzubeleben, scheiterte kläglich. Heute leben etwa 57.000 Menschen in Frankfurt. Erstmals seit 1990 ist die Einwohnerzahl konstant.

Zukunftszentrum für Aufschwung

Das Zukunftszentrum, so hofft man hier, könnte endlich neuen Aufschwung bringen. Falls es tatsächlich nach Frankfurt käme, könnte das wie ein Katalysator wirken, der „Frequenz, Kaufkraft und Touristen in die Stadt“ bringt, glaubt Wilke.

Auch Julia von Blumenthal, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, sieht Potenzial: „Für ein Zentrum, in dem europäische Transformation und deutsche Einheit erforscht, zusammengebracht und in den Dialog gestellt wird, ist Frankfurt der ideale Ort.“ Sie sieht in dem Projekt einen „Leuchtturm, der bundesweit Menschen anzieht“. Zudem könnte die Viadrina mit der neuen Einrichtung in vielen Forschungsfeldern kooperieren.

Schon jetzt ist die Viadrina das akademische Aushängeschild der Stadt. Seit 1991 verschafft sie Frankfurt (Oder) wieder das Prädikat Universitätsstadt und pflegt engen Kontakt zu ihrer Partneruni im polnischen Posen.

Słubice, auf der anderen Oderseite, ist die polnische Hälfte der Doppelstadt. Bis 1945 war das Gebiet ein eigener Stadtteil Frankfurts, nach dem Zweiten Weltkrieg fiel es an Polen. „Für mich war Europa noch nie so unmittelbar sichtbar und erlebbar wie hier in Frankfurt“, erklärt von Blumenthal. Auch Pfarrerin Gabriele Neumann glaubt an das europäische Projekt. „Die große Zukunftsidee für diese Stadt ist, als Doppelstadt zu existieren und dieses Pfund auch zu nutzen.“

Dass diese Idee nicht selbstverständlich ist, hat die Coronapandemie gezeigt, als die Grenze aufgrund hoher Infektionszahlen geschlossen wurde. Die Stadtbrücke, die nicht nur beide Länder, sondern auch Wohnorte mit Arbeitsplätzen, Schulen, Sportvereinen und Einkaufsmöglichkeiten verbindet, war plötzlich dicht.

Für Oberbürgermeister Wilke und die Stadtbevölkerung war das eine „schmerzhafte Zeit“. Doch der Politiker sieht auch, wie sich die Stadt erholt. „Mein Eindruck ist, dass es in dem Bewusstsein der Menschen einiges geändert hat. Selbstverständlichkeiten werden jetzt mehr wertgeschätzt“, sagt er über die damalige Grenzschließung.

Auch wirtschaftlich gebe es Hoffnung: Der Haushalt zeige in eine gute Richtung, man habe ein paar Projekte und Unternehmensansiedlungen realisieren können. Wilke ist darum zuversichtlich, dass es sich diesmal auch lohnt, Hoffnung zu haben.

Ammar, Ibrahim und Kadir aus Syrien sind froh, in Frankfurt (Oder) gelandet zu sein, auch wenn ihr Asylverfahren eine andere Stadt für sie vorsieht. „Morgen fahren wir nach Suhl“, erzählen sie begeistert und wissen vermutlich auch nicht mehr über diese Stadt im südlichen Thüringen wie über Frankfurt.

Aber eines wissen sie: Wie Frankfurt stehen auch sie vor einem Neuanfang.

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