„Ferhats Geschichte gehört zu jedem“

Serpil Temiz-Unvar verlor bei dem Hanau-Attentat ihren Sohn Ferhat. Sie gründete darauf eine Bildungsinitiative, die nun in Hanau feste Räume bezieht. Der Rassismus lasse sich nur besiegen, wenn man in den Schulen anfange, sagt Temiz-Unvar

Fotos: Felix Schmitt

Interview Konrad Litschko

taz: Frau Temiz-Unvar, am Sonntag würde Ihr Sohn Ferhat 25 Jahre alt – wäre er nicht am 19. Februar 2020 bei dem Anschlag von Hanau erschossen worden. Nun begehen Sie an diesem Wochenende das einjährige Jubiläum Ihrer Bildungsinitiative, die Sie nach Ihrem Sohn benannt haben. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in diesen Tag?

Serpil Temiz-Unvar: Mit sehr, sehr gemischten Gefühlen. Natürlich wird es mich sehr traurig und emotional machen, dass ich nicht den Geburtstag von Ferhat feiern kann. Der Schmerz ist immer noch tief, er wird eigentlich immer tiefer – auch wenn ich das nicht nach außen zeige. Ich vermisse ihn jede Minute, jede Sekunde, er ist immer in meinem Kopf. Wenn jemand Kekse isst, denke ich an ihn, weil er Kekse mochte. Wenn ich jemanden mit Kappe und Bart sehe, denke ich an ihn. Immer denke ich an ihn. Auf der anderen Seite freue ich mich, dass wir schon so viel mit der Bildungsinitiative erreicht haben und wir nun auch eine eigene Räumlichkeit einweihen können.

Am Freitagabend erhält Ihre Initiative auch noch den Aachener Friedenspreis …

… ja, das auch noch an diesem Wochenende! Ich weiß noch nicht, ob ich für das alles die Kraft habe, aber ich mache das jetzt einfach, eins nach dem anderen.

Der Preis ehrt Menschen und Gruppen, die „von unten“ Frieden stiften. Das passt wirklich gut auf Ihre Initiative.

Wir freuen uns darüber sehr, wirklich. Das zeigt, dass unsere Arbeit gesehen und ernst genommen wird.

Wie kamen Sie auf die Idee mit der Bildungsinitiative?

Ich hatte schon direkt nach dem Attentat gesagt: Diese Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein. Der Tod von Ferhat bedeutete unendlichen Schmerz. Er hat immer gekämpft, gegen so viele Widerstände, vor allem in der Schule. Und er hat vieles geschafft, hat seinen Abschluss gemacht und seine Ausbildung. Er hatte noch so große Ziele, so viel Hoffnung. Und dann wird er vor seiner Tür erschossen, alles ist umsonst. Das kann ich nicht akzeptieren.

Sie wollten die Erinnerung an Ferhat hochhalten?

Ferhat war oft nachdenklich. Einmal schrieb er: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“ Das soll nicht passieren. Nach seinem Tod hatte ich immer wieder die Bilder seines Kampfs vor Augen. Wir haben früher zu Hause oft gestritten, weil er Probleme in der Schule hatte. Für mich hatten die Lehrer immer recht, so bin ich erzogen worden. Also habe ich ihm gesagt: Du musst mehr machen, egal wie schwer es ist. Und Ferhat hat gekämpft. Aber er blieb der Ausländer, der es nicht kann. Er wurde nicht gleichbehandelt. Heute bereue ich unseren Streit. Wenn ich daran denke, werde ich sehr, sehr traurig. Und ich weiß, Ferhat und ich, wir sind nicht allein damit. Sehr vielen Müttern und Kindern geht es so. Ihnen will ich jetzt Hilfe und Kraft geben. Deshalb die Initiative.

Sie sagen dem Rassismus in Schulen den Kampf an? Eine ziemlich große Aufgabe.

Ich finde, jeder sollte etwas dafür machen, eine Kleinigkeit oder etwas Großes, egal. Wir fangen jetzt damit an, mit Freunden von Ferhat und mir. Alles beginnt mit der Bildung, die Jugendlichen sind die neue Generation. Heute sind sie Kinder und morgen können sie in den Behörden arbeiten. Eigentlich braucht es Initiativen wie unsere in vielen Städten. Wenn viele mitmachen, wenn wir alle zusammenhalten, nicht nur Migranten, können wir Druck machen, und vielleicht schaffen wir etwas Gutes. Ich habe da wirklich Hoffnung.

Sie hatten nach dem Anschlag zunächst die Bundeskanzlerin angeschrieben und sie um die Gründung einer staatlich geförderten Stiftung gebeten, die Aufklärungsarbeit gegen Rassismus leistet.

Ich hatte ihr zweimal geschrieben, aber ich wurde nur an den Opferbeauftragten der Bundesregierung verwiesen. Das war eine Enttäuschung. Da gab es für mich nur noch zwei Wege: Entweder ich hasse die ganze Welt und die Menschen. Oder ich kämpfe für Ferhat und die anderen Jugendlichen. Und da habe ich mich für das Zweite entschieden.

Was haben Sie mit Ihrer Initiative bisher erreicht?

Es ist viel passiert. Wir haben den ersten Gedenktag an den Anschlag mit vorbereitet. Wir haben Bildungsmaterial und Videos erstellt. Einige unserer Jugendlichen haben sich als Demokratietrainer ausbilden lassen, sind mit Workshops bundesweit in Schulen gegangen. Und wir bekommen viel Unterstützung, von der Bildungsstätte Anne Frank, von der Rosa-Luxemburg-Stiftung oder der Stadt Hanau. Ein Gymnasium in Erlenbach hat 11.000 Euro Spenden für uns gesammelt – das war so toll! Nur mit dieser Unterstützung, nur zusammen, haben wir das geschafft.

Vor der Bundestagswahl veröffentlichte Ihre Initiative Videos, in denen Freunde von Ferhat aufriefen, wählen zu gehen. Keine Selbstverständlichkeit nach dem Anschlag und der Enttäuschung vieler Betroffener über einige Reaktionen der Politik und Behörden.

Man muss wählen gehen, natürlich. Viele Jugendliche haben setzen ja überhaupt keine Hoffnungen mehr in die Politik. Sie denken, die Politik gehört den erwachsenen Menschen. Aber es geht um ihre, um unsere Zukunft. Und über die können keine anderen Leuten entscheiden als wir selbst. Deshalb sagen wir: Baut euch eure Zukunft selbst, macht etwas! Das fängt mit Wahlen an, aber geht auch weiter.

Zuletzt beklagten aber auch Sie immer noch offene Fragen zum Anschlag in Hanau: zum kaum erreichbaren Polizeinotruf in der Tatnacht, einem verschlossenen Notausgang an einem der Tatorte oder der Rolle des Attentätervaters.

Serpil Temiz-Unvar, 46 Jahre. Die Kurdin und frühere Journalistin lebt seit 25 Jahren in Deutschland, ihre vier Kinder sind in Hanau geboren. Ferhat war ihr ältester Sohn.

Die Fragen werden immer mehr, aber wir bekommen keine Antworten. Ich weiß auch bis heute nicht, wie Ferhat starb. Die Schüsse auf ihn fielen um 22 Uhr, in einem Video aus dem Kiosk sieht man, dass er noch ein paar Schritte läuft und dann hinter der Theke verschwindet. Als die Polizei kam, hat keiner nach ihm geguckt. Später wurde sein Todeszeitpunkt für 3.10 Uhr aufgeschrieben. Ich sage das zu mir jeden Tag: Wie lange hast du noch gelebt, Ferhat? Hast du Schmerzen gehabt? Warum hat dir keiner geholfen? Keiner gibt mir dazu Antworten, keiner.

In Hessen läuft jetzt ein Untersuchungsausschuss zu dem Anschlag. Hoffen Sie hier auf Aufklärung?

Ich weiß nicht, ob das Antworten bringt. Aber wir werden es verfolgen und ich werde auch als Zeugin aussagen. Und wir werden auch weiter die Akten durchgehen. Wir machen das – ob das die Polizei noch macht, weiß ich nicht. Alle sagen immer: Wir haben aus Hanau gelernt. Da frage ich: Was denn? Was habt ihr wirklich danach gemacht? Warum habt ihr nicht schon aus dem NSU gelernt? Ich habe das Gefühl, die reden nur, aber machen nichts.

Die Initiative 19. Februar, die Sie und die anderen Anschlagsopfer unterstützt, beklagte gerade erst, dass Hessen seinen versprochenen Opferfonds zum Hanau-Anschlag bis heute nicht realisiert hat. Bringt Sie das in Probleme?

Ich mache jetzt nicht die Hand auf und bitte um Geld. Das mache ich nicht. Aber es stimmt, dass wir vom hessischen Opferfonds noch kein Geld bekommen haben. Es geht aber nicht nur um uns Familien. Es geht auch um die Initiativen. Wenn der Staat sagt, wir wollen etwas gegen Rassismus machen, dann muss er auch Gruppen finanziell unterstützen, die dafür arbeiten. Das passiert viel zu wenig. Auch in unserer Bildungsinitiative arbeiten alle ehrenamtlich. Das wird nicht lange so gehen.

Die Trauer, der Schmerz – und dann dieses Engagement. Woher nehmen Sie die Kraft dafür?

Ich kämpfe für Ferhat, und für die anderen Jugendlichen. Für eine bessere Gesellschaft. Das gibt mir Kraft und das Gefühl, dass Ferhat nicht sinnlos gestorben ist. Für mich lebt Ferhat weiter mit diesen Jugendlichen. Seine Geschichte – die gehört zu jedem.