Debütalbum von John Glacier: Langsam auftauen

Die Londonerin John Glacier lässt auf ihrem Debütalbum „Shiloh: Lost for Words“ HipHop-Beats auf Krautrock und aufgekratzte Texte prallen.

John Glacier sitzt auf einem tiefen Sessel

Ihre Musik klingt auch im Sitzen gut: John Glacier Foto: Udoma Janssen

„Thought I lost until I grew / Go foreign when feel insane“, rappt John Glacier im Auftaktsong: „If Anything“ bruchstückhaft. „If Anything“ lässt eine exzessive Clubnacht Revue passieren, zumindest das, woran sich die Vortragende nach dem Kater erinnern kann. Der soghafte Charakter des Songs stellt klar: Glaciers Debütalbum „Shiloh: Lost for Words“ ist nicht um Worte verlegen, die Musik oszilliert zwischen HipHop-Anleihen und Lofi-Beats, Glaciers Sprechgesang wirkt eher kühl-distanziert.

John Glacier: „SHILOH: Lost for Words“ (Make it Ruins/Rough Trade)

Insofern muss niemand grübeln, woher der Künstlername John Glacier kommt. Wie sie wirklich heißt, gibt die queere Londonerin ebenso wenig preis wie ihr Alter. Bekannt ist, dass sie aus Hackney kommt – einst Problemstadtteil im Osten der Stadt, inzwischen Hipster-Viertel. Einerseits inszeniert sich John Glacier als rätselhafte Sphinx, andererseits spielt Glaubwürdigkeit in der Inszenierung eine Rolle.

In den Songtexten bricht sie ihre frostige Fassade durch melancholische Einschübe. Die Afrobritin erklärte, sie sei ursprünglich aus reinem Egoismus Musikerin geworden. Komponieren, erwähnt sie stets, sei für sie eine Form von Therapie. Wenn sich andere damit identifizieren könnten, umso besser.

Solche Sätze hat man schon gehört. Trotzdem wirken Glaciers Ambitionen ernsthaft. Schon ihr Soundcloud-Auftritt ist erfrischend anders. Anfangs dokumentierte sie Geistesblitze in einem akustischen Tagebuch, viele Skizzen hat sie inzwischen gelöscht. Man findet noch eine knapp 30-sekündige Klangcollage, mit der sie ein Kind zum Lachen gebracht hat. Und die Geräuschkulisse eines Freitagabends in Hackney. Solche Miniaturen haben einen besonderen Effekt – gefühlt tauchen die Hö­re­r:in­nen in John Glaciers Perspektive auf die Welt ein.

Aus den Experimenten entwickelte sich schließlich das Album. 2019 teilte sich John Glacier mit ihrem Produzenten Vegyn – bekannt durch seine Kooperationen mit dem Kalifornier Frank Ocean – ein Studio. Er tagsüber, Glacier aus Kostengründen nachts, bald begannen die beiden, Demos hin und her zu schicken. So entwickelte sich die vielfältige Musik: In „Cryptomnesia (Savage Game)“ treffen Kakophonien auf eingängige Melodiebögen. Unter die entspannt pluckernden Beats von „Trelawny Waters (Computer Is Dying)“ mischt sich das Miauen einer Katze. Dazu singt Glacier: „I wanna party all night“. Mit konventioneller Dance­floor-Euphorie hat diese sphärische Nummer nichts zu tun, Instrumentierung und Sentiment sind intensiver. Am besten genießt man John Glaciers Musik allein zu Hause auf dem Sofa, statt mit vielen auf der Tanzfläche in einem Club.

Immer wieder kommen Elemente vergangener Popdekaden seltsam anverwandelt zum Vorschein. Mal lehnt sie sich an Krautrock ab, mal definiert sie HipHop wie einen Torchsong. Manchmal benötigt sie dafür gerade zwei Minuten. Einzig „Platoon“ durchbricht die Drei-Minuten-Grenze. In diesem Lied bringt John Glacier seelische Narben und Unsicherheit an die Oberfläche. In der Musik schwingt Monotonie mit, aber ihr Sprechgesang besticht durch Coolness und macht sie unnahbar. Das im Tempo gedrosselte „No More Left Like It’s Death (Hold on a Second there)“ betört und verstört zugleich. Die Synthesizer-Akkorde drohen ihren kindlichen Sprechgesang am Ende beinahe zu verschlingen.

„Icing“ wiederum spielt auf das Image der Künstlerin an. „Know that they don’t like me like me / They just think I’m icy“, heißt es da. Nicht wenige halten sie vermutlich auf den ersten Blick für eine unnahbare Eisprinzessin, doch ihre entwaffnenden Textzeilen führen diese Theorie ad absurdum. John Glacier setzt alles auf den emotionalen Gehalt ihrer Songs. Auf diese Weise gelingt ihr die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz.

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