schlagloch
: Grund zur Scham

Unaufmerksamkeit, Desinteresse und bürokratische Hürden sind zentrale Gründe für die menschliche Katastrophe, die sich in Kabul abspielt

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Jagoda Marinić

ist Schrift­stellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch „Sheroes. Neue Hel­d*in­nen braucht das Land“ erschien 2019.

Die Schlagloch-Vorschau

1. 9. Georg Seeßlen

8. 9. Ilija Trojanow

15. 9. Mathias Greffrath

22. 9. Charlotte Wiedemann

Noch während ich diese Kolumne schreibe, erklärt Bundesaußenminister Heiko Maas: „Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen.“ Man stelle sich diesen Satz als Bildunterschrift der Bilder vor, die seit Tagen in den Medien kursieren. Unter Eltern, die ihr Baby in die Hände von Soldaten geben, ganz gleich, was kommt, unter Bilder von Journalisten, die Strafe der Taliban fürchten für ihre Berichterstattung, unter Bilder von Menschen, die sich aus Verzweiflung lieber an ein Flugzeug hängen, als bei den Taliban zu bleiben, weil sie dort nur zur Trophäe werden könnten für den Sieg, den die Taliban gegen die Freiheit errungen haben.

Seit bald zehn Tagen sehen wir die Bilder dieser humanitären und militärischen Katastrophe, und man weiß leider, dass die Wohlstandsverwahrlosten, die Freiheit so wertvoll finden, bald schon keine Kraft mehr haben werden für das Elend der anderen. Es wird schnell zu viel sein, neben den eigenen Sorgen noch an Menschen zu denken, die so weit weg im Elend leben. Es liegt nun an jedem von uns, den Regierenden klarzumachen, dass wir repräsentative Demokratie nicht so verstehen, dass man in unserem Namen Menschen in Kriegsgebieten zurücklässt.

Die Bundesregierung schafft seit zehn Tagen einmal mehr ein bürokratisches Chaos, wie bei so vielen Themen, wo es am Ende mehr Papier als Lösungen gibt. Doch hier geht es um Menschenleben. Schnell wurde bekannt, dass Menschen, die gerettet werden müssen, auf Listen kommen sollen. Wie sie aber zum Flughafen kommen sollen, dafür fühlte sich die Bundesregierung zunächst nicht zuständig. Es begann ein Schachern um den Status, nach dem die Bundesregierung verantwortlich sei: Festangestellt oder nicht, weisungsgebunden oder nur bei Subunternehmen angestellt, dieselbe perfide neoliberale Logik wie auch hierzulande: Dienstleistungen von Menschen zu erkaufen und ihnen als Arbeitgeber gleichzeitig so wenig Verbindliches wie möglich bieten zu müssen, diese ohnehin unmenschliche Logik wollte man kurzerhand auch in eine Situation übertragen, in der Krieg herrscht, wo es ums Leben oder Tod geht: Wir haben keine Fürsorgepflicht für dich, du warst ja nicht weisungsgebunden, auch wenn du uns die letzten Jahre geholfen hast.

Wer wird gerettet? Und wie? Die WDR-Moderatorin Isabel Schayani, der wir, so wie Natalie Amiri, wichtige Informationen über die Lage in Afghanistan verdanken, setzte vor vier Tagen einen Tweet und fasste damit die Doppelmoral der Bundesregierung zusammen: „Bei Corona versuchten wir alles, um den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Zu Recht. Was da in #KabulAirport abgeht, muss Super-Selektion sein. Triage zum Quadrat. Überleben der Stärksten. Die armen Menschen, die da Listen führen und entscheiden, wer mitkommt und wer nicht.“

„Die Zeit wird nicht ausreichen, alle auszufliegen, die wir ausfliegen wollen“, sagt Heiko Maas. Unterdessen fürchten Frauenrechtlerinnen um ihr Leben und mit ihnen viele deutsche Hilfsorganisationen. Innenminister Horst Seehofer bestritt, es dürften alle kommen, ohne Bürokratie, während Frauenorganisationen warten und nicht wissen, wie das Kommen umgesetzt werden kann. Auch die internationale Frauenorganisation Medica Mondiale, die sich noch in Zeiten des Krieges in Ex-Jugoslawien gegründet hatte, weiß immer noch nicht, wie es weitergeht. Deren Gründerin, die Ärztin Monika Hauser, erklärte mir gegenüber: Unsere Kolleginnen können nicht raus aus Afghanistan, weil es immer noch keinen gesicherten Korridor gibt. Selbst wenn sie es zum Flughafen schaffen, ist nicht klar, ob sie das Flugfeld betreten dürfen.“

Müsste es nicht so laufen, dass die Bundesregierung auf die Menschenrechtsorganisationen zugeht, statt dass sich jede einzeln durch den Apparat kämpfen muss, um zu erfahren, wie es weitergeht? In einer funktionierenden Demokratie kann die Zivilgesellschaft nicht nur in die Pflicht genommen werden, man kann nicht Projekte vergeben an Träger, die dann vertrauensvoll Entwicklungsarbeit leisten, um im Notfall machtlos dazustehen und den eigenen Leuten sagen zu müssen, dass man von der eigenen Regierung nicht mehr unterstützt wurde?

Marcus Grotian vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hat mehr für die Aufklärung über die Arbeit der Bundesregierung getan als jedes Ministerium. Die Transparenz über das Handeln und Scheitern in den Ministerien scheint den Regierenden kein Bedürfnis zu sein. Grotian berichtet von Unterlassungen, mit denen er umgehen musste, seit er Menschen aus Afghanistan retten will. Er bot dem Bundeskanzleramt seine Hilfe an, weil die Ministerien sich gegenseitig blockierten und zu lange brauchten. Er erhielt keine Reaktion, keine Antwort.

Bei Corona versuchten wir, den Ärztinnen eine Triage zu ersparen. Was in Kabul abgeht, ist eine Triage zum Quadrat

Man muss danach fragen, ob sich noch jemand schämt. Wer kann eine Mail von Marcus Grotian lesen und einfach nicht darauf antworten? Repräsentative Demokratie ist Politik im Namen des Volkes. Wenn Privatleute ein persönliches Wertesystem haben, dass es ihnen ermöglicht, solche Mails auszusitzen, fein. Mein Beileid. Aber nicht als Amtsträger, nicht als jemand, der Verantwortung übernommen hat.

Das Leid in Afghanistan ist Konsequenz eines internationalen Scheiterns, ja. Doch in Deutschland wird es zunehmend zu einer Vertrauensfrage zwischen Bundesregierung und Zivilgesellschaft. Selbst wenn die internationalen Geheimdienste versagt haben – Menschen wie Marcus Grotian hatten frühzeitig Alarm geschlagen, weil sein Verantwortungsgefühl für die Menschen größer zu sein scheint als das jener, die die politische Verantwortung tragen. Vor der Bundespressekonferenz warf er am Dienstag der Bundesregierung „unterlassene Hilfeleistung“ vor. Man muss jetzt den Regierenden deutlich machen: „Nicht in unserem Namen!“