Lin Hierse
Poetical Correctness
: Die große Lüge von den westlichen Werten

Foto: privat

Es fehlt so viel. Das ist schon lange so, aber gerade ist das Fehlen so laut, dass niemand mehr weghören kann. Es fehlt Verantwortung, Ehrlichkeit, Mut, Einsicht. Es fehlt Anstand, vor allem Anstand. Mir fehlen außerdem Wörter. Wie nennen wir das Stück, das der sogenannte Westen auf der geopolitischen Bühne aufführt? Die Heuchelnden? Die Schäbigen? Die Armseligen? Die Schande? Es ist unklar, ob diese Bezeichnungen noch etwas auslösen, sie wurden so oft in Münder genommen und noch öfter in die falschen. Trotzdem brauchen wir Worte für diese Zeit. Keine nie gesagten, denn alles wurde gesagt, immer wieder. Aber etwas, das wiederholt werden muss, damit das Entsetzen größer wird als die Gewöhnung.

Gerade habe ich eine Raufasertapete abgerissen. Ich kratzte das weiße Zeug von der Wand, es rieselte auf meine Füße und ich hoffte, dass hinter der Tapete etwas Schönes liegt, aber leider ist da nur Wand. Wie oft haben Sie Ihren Kopf dieses Jahr schon gegen Wände geschlagen? Ich sehr oft. Wir kratzen Tapeten ab und andere Verkleidungen, weil es nicht mehr anders geht. Es rieselt, wir finden nichts Schönes, nur Wände. Vielleicht passt „Die große Lüge“, denke ich. Die große Westliche-Werte-Lüge.

Westliche Werte. Die kommen doch vom Christentum und aus der griechischen Philosophie und von der französischen Revolution. Da sollten wir doch an Freiheit denken, und an Demokratie und Menschenwürde. Westliche Werte, die sollten doch der Gegenpol sein zu Diktaturen und Barbarei und, na ja, zum Nichtwesten. Das haben wir doch in der Schule gelernt und dann haben wir es wiederholt, immer wieder, ich auch, bis wir es für wahr gehalten haben. Der Westen ist gut, gutes Leben, gute Werte.

Stabiles Narrativ, populär wie ein Märchen. Aber jetzt brennt die Erde und sogar das Meer, Trump brüllte „America First“ und Biden flüstert es weiter, jetzt macht die EU Pushbacks im Mittelmeer, jetzt halten reiche Staaten Patente für Impfstoff zurück, jetzt sind lukrative Deals wichtiger als die dreckigen Westen ihrer Beteiligten, jetzt gewinnen Rechts­po­pu­lis­t:in­nen Mehrheiten in Europa, jetzt überlässt die Nato (Selbstverständnis: „Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten“) Afghanistan den Taliban, jetzt hebt ein Flugzeug ab, an das sich Menschen klammern, jetzt fliegt die Bundes­regierung mit einem riesigen Flugzeug ­exakt sieben (!) Menschen aus Kabul aus. Jetzt trägt man wieder Phrasen über den Schutz von Frauen und Minderheiten als Schild vor sich her. Jetzt findet der Kanzlerkandidat der Union: „2015 darf sich nicht wiederholen“ – alles jetzt und schon wieder.

Die Fünftage­vorschau

Do., 19. 8.

Mohamed Amjahid

Die Nafrichten

Fr., 20. 8.

Peter

Weissenburger

Unisex

Mo., 23. 8.

Caroline Kraft

Schluss jetzt

Di., 24. 8.

Susan

Djahangard

Sie zahlt

Mi., 25. 8.

Anna Dushime

Bei aller Liebe

kolumne@taz.de

Mir rieseln weiße Flocken auf die Füße, als ich denke, dass es diese mit rechtsaußen kuschelnde Machterhaltsrhetorik ist, die sich nicht wiederholen darf. Dass sich nicht „Wertegemeinschaft“ nennen kann, wer Werte und Gemeinschaft verrät. Dass ein humanistisches Vakuum die erbärmlichste Antwort ist auf die Bedrohung von Freiheit und Menschenleben.