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Achtung! Sie verlassen den West-Sektor!

Die EU teilt sich scheinbar in den liberalen Westen und den rechten homophoben Osten. Doch dieses Bild ist zu simpel

Von Norbert Mappes-Niediek

Wenn man anschaut, welche Länder den Protestbrief gegen Ungarns LGBTQ-Gesetz unterschrieben haben, ist das Bild eindeutig. Hier ein kompaktes Gebiet von Schweden bis Italien, dort ein kompaktes Gebiet von Polen bis Bulgarien, deren Regierungen nicht unterschrieben haben. Osten gegen Westen: Das ist exakt die Bruchlinie, die Viktor Orbán mit seinem Gesetz ziehen wollte.

In Brüssel dagegen wurden konfliktträchtige Ost-West-Unterschiede über lange Zeit weg­gebetet – bis Orbán mit sicherem Instinkt alle zum Bekenntnis zwang. „Leider kann ich nicht allein, und auch nicht mit anderen Mitgliedsstaaten, sagen: Ihr gehört raus!“, sagte entnervt der niederländische Premier Mark Rutte, an Ungarn gewandt, nach dem turbulenten Gipfel Ende Juni. Und über Orbán resignierend: „Er ist schamlos. Also macht er weiter.“

Was haben wir uns mit der Osterweiterung bloß eingehandelt? Das wurde nie ehrlich besprochen. Bis zur Erweiterung der EU um acht exkommunistische Staaten 2004 und drei weitere in den Jahren danach galt das Narrativ, „Mitteleuropa“ sei bloß ein „gekidnappter Westen“, wie der tschechische Schriftsteller Milan Kundera es ausgedrückt hätte. Der Amerikaner Jeffrey Sachs, Spiritus Rector der Transformation der Neunzigerjahre, verglich seine Arbeit mit der eines Bildhauers, der nur die Schlacken des Kommunismus wegschlagen müsse, um die makellose Skulptur einer demokratisch-liberalen Gesellschaft freizulegen.

Dreißig Jahre nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist von diesem Narrativ nicht viel übrig. Mit fleißigem Zutun Orbáns bildet sich gerade ein neues Ostbild heraus – ebenso wirkmächtig wie das alte. Und genauso schief. Im aktuellen Bild vermischen sich zwei alte und ein neues: das von rückständigen, patriarchalischen Nationen, das mit den vom Kommunismus versehrten Gesellschaften und schließlich das neue vom modernen Rechtspopulismus, der in autoritär strukturierten Ländern den idealen Nährboden finde und nun von Osten nach Westen ziehe.

Schaut man sich die Ost-West-Kontroverse um LGBTQ genauer an, fällt das Bild rasch auseinander. Historisch ist Homophobie keine östliche Spezialität, im Gegenteil. Die großen „Skandale“ um Sex unter Männern wurden in England und Deutschland aufgeführt – von Oscar Wilde bis zu Bundeswehr-General Kießling in den 1980er Jahren. Weiter östlich wurde das Thema nie so wichtig genommen. Einen Strafrechtsparagraphen hat es etwa in Polen so wenig gegeben wie in Frankreich oder Italien. Schon 1957 wurde Sex zwischen erwachsenen Männern in der DDR straffrei, 1961 in Ungarn und im Jahr darauf endgültig auch in der Tschechoslowakei. Großbritannien dagegen war erst 1967 so weit, die Bundesrepublik 1969 und Österreich 1971. Noch in den Siebzigerjahren bekamen zwei Männer in Prag oder Warschau leichter ein Hotelzimmer als in München oder Köln.

Erst nach dem Jahr 2000 wurde aus dem Streit um die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, um eingetragene Partnerschaft und Homo-Ehe ein ost-westlicher Kulturkampf mit hohem Mobilisierungspotenzial – der erste seit 1989. Konservativen Widerstand gab es auch im Westen. Aber nur im Osten erhitzte der Krieg um die Gay-Pride-Paraden mehr als ein Jahrzehnt lang die Gemüter. Den blutigen Auftakt gaben Hooligans in Belgrad, als sie unter dem Ruf „Töte, töte, töte den Schwulen“ Dutzende Teilnehmer krankenhausreif schlugen. „Sei intolerant, sei normal!“, schrieb eine bulgarische Partei auf ihre Wahlplakate. Eine polnische Politikerin wollte sogar die „schwulen“ Teletubbies verbieten lassen.

Die homophobe Bewegung – die im Übrigen ihren Höhepunkt überschritten hat – kam in dem Moment auf, als im Osten das Gefühl um sich griff, benachteiligt zu werden. Mehr als ein Jahrzehnt lang war man nach 1989 als Nation erzogen, belehrt, gegängelt worden, musste nachholen, aufschließen, seine „Hausaufgaben“ machen. Brav hatte man alles gemacht. Jetzt sei man mit dem Westen gleich auf, dachte man. Aber schon kam die nächste Herausforderung, und sie griff viel tiefer als je eine kommunistische Regierung getan hatte. Familie war ja bis 1990 immer der Freiraum gewesen. Im Privaten galten noch die „natürlichen“ Verhältnisse, da war das Volk bei sich. Die Reformer unter den Kommunisten, die das beharrende Volk sonst doch ständig mit Neuerungen, Umdeutungen, Kampagnen nervten, hatten das begriffen. Vor sensiblen Themen wie Sexualität und Familie machten sie Halt.

Den Kick aber gibt der homophoben Bewegung die symbolische Ebene. Im Verhältnis zum Westen, der sich als gebender, spendender Teil inszeniert, wird der Osten zur passiven Empfängerin gemacht – mit einem Wort: zur Frau. Dreißig Jahre lang Objekt unaufhörlichen westlichen „Mansplainings“ zu sein, ist für jede patriarchalische Gesellschaft eine Kränkung. Homophobie ist das Gegengift: Schwul ist der Westen, hier bei uns sind die ganzen Männer zu Hause. Der Hass treffe die Schwulen, „weil sie für Passivität stehen“, analysiert der Berliner Sexualforscher Martin Dannecker. Schwule lassen „es mit sich machen“.

Auch das Bild vom typisch östlichen Rechtspopulismus ist schief. Erste Triumphe erzielte die neue Strömung vor bald zwanzig Jahren in Frankreich, als Marine Le Pens Vater es in die Stichwahl gegen den Präsidenten Jacques Chirac schaffte. Den Gipfel ihrer Macht und Bedeutung erreichte sie in den USA mit Donald Trump. Mit Hingebung autoritär tritt die neue Rechte in Osteuropa vor allem in Russland auf. In Polen steht tiefer Konservatismus im Vordergrund, in Ungarn nationalistische Ideologie, in Tschechien ein extremer Neoliberalismus. Das Bild hat viele Facetten.

Überall aber profitiert die Rechte von der Ratlosigkeit der Linken und Liberalen. Denn die haben nur das Ziel weiter dem sichtlich schleudernden Westen nachzueifern. Das Gefühl der Benachteiligung ist den Gesellschaften im Osten Europas tief eingeschrieben. In der Geschichte hat immer der Westen die Maßstäbe gesetzt, heimlich auch in der kommunistischen Zeit. Im Ergebnis landete man bestenfalls immer auf Platz zwei. Die Transformation der 1990er Jahre hat das Gefühl noch verstärkt: Der Westen hat den Osten gekauft. Auch wenn es unter dem Strich zu beider Wohl geschah: Das Gefälle war damit zementiert.

Die westliche Erzählung, dass man doch für die ärmeren Brudernationen viel zahle, teilt man im Osten nicht. Aus östlicher Perspektive sind die Rollen des Gebers und des Empfängers vertauscht. Profitieren westliche Investoren nicht enorm davon, dass sie unseren Arbeitnehmern viel niedrigere Löhne zahlen? Spielen sie unsere Regierungen in der Werbung um Betriebsansiedlungen nicht gegeneinander aus, sodass wir keine Forderungen an sie stellen dürfen und wir sie mit Steuergeschenken herbeilocken müssen? Haben sie uns über den Umweg über ihre Regierungen und die EU-Kommission nicht selbst die Regeln aufgedrückt, nach denen sie dann hier wirtschaften? Verkaufen sie uns am Ende nicht die Waren, die wir selbst für geringen Lohn hergestellt haben, zu überhöhten Preisen? Und müssen wir es uns gefallen lassen, dass westliche Länder ihre Probleme mit Zuwanderung zu uns exportieren? Uns, die wir doch täglich Experten, Ärzte, Fachleute, Wissenschaftler an euch verlieren?

Norbert Mappes-Niediek

lebt in Graz. 2021 erschien von ihm „Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht“ im Links Verlag.

Die Erfolgsmeldungen in den Business-Nachrichten verdecken den Befund nur. Seit der Finanzkrise von 2008 gleichen sich die Lebensverhältnisse in Ost und West kaum noch an – und wenn, dann nur dank boomender Metropolen. Die Westslowakei mit ihrem riesigen VW-Werk ist reicher als Schleswig-Holstein oder das gleich angrenzende Niederösterreich. Aber schon die Ostslowakei erwirtschaftet kaum mehr als ein Viertel davon. Ein Gefälle solchen Ausmaßes gibt es in Westeuropa in keinem einzigen Land; selbst Oberbayern ist nicht einmal doppelt so reich wie Mecklenburg-Vorpommern. Nimmt man die Unterschiede zwischen den Staaten hinzu, tut sich ein gewaltiger Abgrund auf: Ärmste und reichste Region in der EU differieren um das Zwanzigfache.

Nicht die „anderen Werte“ machen den Ost-West-Gegensatz aus. Das Grundproblem ist, dass der Osten im gemeinsamen Wertesystem immer auf den hinteren Plätzen landet. So sehr man sich auch anstrengt – bei Macht, Prestige, Modernität, Einkommen wird man den Westen nicht erreichen. Schicke (und reiche) Niederländer, dumpfe (arme) Bulgaren – verhandelt wird das Gefälle immer nur auf nationaler Ebene. Das ist kein Wunder bei der Europäischen Union, die aus Nationen besteht, Posten und Ressourcen nach Nationen verteilt. Die einen fühlen sich immer benachteiligt, die anderen wollen nicht in ein Fass ohne Boden zahlen. Alle fühlen sich von allen ausgenützt. Für Nationalisten in Ost und West ist das ein Elfmeter.

Mark Ruttes Befürchtung ist realistisch: Orbán wird so weitermachen. Die Konstellation ermöglicht ihm die Rolle des Beschützers der Ungarn gegen die „koloniale Anmaßung“, wie seine Justizministerin sie eloquent beklagt. Als Volks­tribun, als Rebell gegen eine übergriffige Zentralmacht, ist Orbán schon jetzt unschlagbar. Durch den Coup mit seinem homo- und transphoben Gesetz kann er sich Chancen ausrechnen, zum Klassensprecher der europäischen Unterstufe zu werden. Dass er in der EU je eine Mehrheit und damit Gestaltungsmacht bekommt, muss er nicht befürchten. Es wäre sein Ende. Seine Pose funktioniert nur in der Minderheit.

Noch weicht die Trennlinie zwischen Freunden und Gegnern des ungarischen Homophobie-Gesetzes an zwei Stellen vom Eisernen Vorhang ab. Die Balten machen mit Orbán nicht mit; wirtschaftlich sind sie zu stark am skandinavisch-liberalen Norden orientiert. Aber auch in Riga schmissen schon empörte Bürger Beutel voller Exkremente auf eine Gay-Pride-Parade. Dafür gehört auf der neuen Europakarte entlang des Protestbriefes gegen Ungarns LGBTQ-Gesetz Österreich zum Osten. Aber das hat eher taktische Gründe. Die Regierung in Wien will sich als Brücke zwischen Berlin und Budapest profilieren. Von einer homophoben Bewegung, gespeist aus dem Gefühl der Zurücksetzung, ist in der Heimat von Conchita Wurst kein Hauch zu spüren.

Wer jetzt im Westen die Chance nützt, gegen „den Osten“ zu mobilisieren, und, wie Rutte, fruchtlose Hinauswurf-Fantasien pflegt, läuft genau in die Falle. Ein wirklicher europäischer Wert ist die Akzeptanz verschiedener sexueller Orientierungen nur, wenn sie nicht zur Pflege westlicher Identität missbraucht wird. Wenn jemand europäische Werte braucht, dann sind es schwule, lesbische, transidente Ungar*innen, Pol*innen, Slowen*innen. Wenn wir wirklich alle Europäer sind, sind sie unsere Landsleute.

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