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„Da wird sicher wieder gesagt, die böse Stiko“

Die deutsche Politik hat beschlossen, Risikogruppen nachzuimpfen. Politisch verständlich, findet Stiko-Chef Mertens. Wissenschaftlich aber nicht gedeckt

Dritter Shot? Viele haben noch nicht einmal den ersten. Beim Open-Air-Festival bei Erlangen im Juli gibt es Gelegenheit Foto: Nicolas Armer/dpa

Interview Manuela Heim

taz: Herr Mertens, gerade mal die Hälfte der Bevölkerung ist voll geimpft, da reden wir schon von Auffrischungsimpfungen. Ist das wirklich nötig?

Thomas Mertens: Es gibt ganz sicher Gruppen von Menschen, bei denen eine baldige Nachimpfung sinnvoll ist, dazu gehören vor allem immunsupprimierte Menschen.

Also Menschen, deren Immunsystem nach einer Organtransplantation unterdrückt wird.

Zum Beispiel. Außerdem wissen wir aus Laborstudien, dass ältere Menschen im Durchschnitt schlechtere Immunantworten haben als jüngere und dass diese Immunreaktion auch über die Zeit nachlässt.

Sie können also nach gewisser Zeit trotz Impfung schwer an Covid-19 erkranken?

Das wissen wir noch nicht. Die Frage der Dauer des Impfschutzes vor Erkrankung ist derzeit wissenschaftlich nicht beantwortet. Die Laborwerte geben da nur eine Hilfestellung, sind aber ganz sicher keine absolute Antwort.

Warum wird überhaupt davon ausgegangen, dass die Impfung nicht lebenslang hält wie bei Masern oder wenigstens zehn Jahre wie bei Tetanus?

Das hängt zum einen mit dem Impfstoff zusammen. Die Impfstoffe müssen im Idealfall das gesamte Immunsystem „scharf“ machen. Nun wissen wir aber, dass die Impfstoffe, die wir derzeit verwenden, sehr gezielt neutralisierende Antikörper und eine T-Zell-Immunität generieren. Diese Immunantwort ist aber nicht so breit wie bei jemandem, der eine Infektion durchgemacht hat, weil da noch andere Antigene ins Spiel kommen.

Und der andere Faktor?

… ist der Erreger selbst. Es gibt Viren wie das Poliovirus oder das Hepatitis-A-Virus, die auch bei natürlicher Infektion eine lebenslange Immunität hinterlassen. Und es gibt andere Viren, bei denen das nicht der Fall ist. Das gilt gerade auch für die Corona-Schnupfen-Viren, die schon lange bei uns unterwegs sind. Es war also schon ­vorher anzunehmen, dass es auch bei Sars-Cov-2 nicht zu einer lebenslangen Immunität kommt.

Kann es aber sein, dass bei jüngeren Menschen mit einer guten Immunantwort der Impfschutz mehrere Jahre andauert?

Das kann gut sein. Aber wie gesagt: Wir wissen noch nicht, welche Gruppe von Geimpften wie lange geschützt ist.

Woher kommen eigentlich die Studienergebnisse zum empfohlenen Zeitpunkt von Nachimpfungen? Etwa von den Impfherstellern wie jüngst von Biontech/Pfizer, die empfehlen, schon nach 6 Monaten aufzufrischen?

Die Hersteller kennen aus den Zulassungsstudien bereits die Menschen, die sehr früh ihre Grundimmunisierung bekommen haben, und die sollte man natürlich unbedingt nachverfolgen. Gerade hier kann ich gut überwachen, wie sich die Immunantwort über die Zeit verhält und ob es Infektionen und Erkrankungen trotz Impfung gibt. Man müsste eigentlich die Hersteller dazu verpflichten, das langfristig zu tun.

Gleichzeitig schrillen da aber die Alarmglocken: Es sind ja gerade die Hersteller, die ein hohes finanzielles Interesse an der Notwendigkeit von Auffrischungsimpfungen haben.

Die FDA (die US-Arzneimittelbehörde; d. Red.) hat genau aus diesem Grund auch zurückhaltend auf die Pfizer-Meldung reagiert und gesagt, wir brauchen noch mehr Daten zur Notwendigkeit und zum notwendigen Zeitpunkt der Impfung.

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Thomas Mertens, 71, ist seit 2004 Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) und seit 2017 deren Vor­sit­zender. Bis 2018 war er Ärztlicher Direktor des Ulmer Instituts für Virologie.

Gibt es Impfstoffe, für die Sie eine schnellere notwendige Nachimpfung erwarten – zum Beispiel beim Einmalimpfstoff von Johnson & Johnson?

Ja, es gibt erste Erkenntnisse, die darauf hindeuten, dass man bei Johnson & Johnson wahrscheinlich nachimpfen muss.

Also können sich Johnson & Johnson-Geimpfte schon mal darauf einstellen, dass sie früher als andere, vielleicht schon diesen Herbst oder Winter, nachimpfen sollten?

Das kann man vermuten, ja.

Ist bei den Auffrischungsimpfungen der Impfstoff dann beliebig mischbar oder sollte man doch wieder denselben Impfstoff verwenden?

Beliebig mischbar sicher nicht. Aber mittlerweile wissen wir, dass die Kombination – erst Vektorimpfstoff, dann mRNA-Impfstoff – sehr gut funktioniert. Insofern ist bezogen auf Johnson & Johnson auch recht einfach zu sagen, dass man die Auffrischungsimpfung mit einem mRNA-Impfstoff machen sollte.

Die Auffrischungsimpfungen sind ja vor allem auch vor dem Hintergrund der Deltavariante relevant. Sollte man dann nicht die angepassten Impfstoffe abwarten, oder dauert das eh noch zu lang?

Es gibt schon Studien mit an die Deltavariante angepassten Impfstoffen – bei den mRNA-Impfstoffen ist das ja nicht so kompliziert. Ich vermute aber, dass es noch bis in den Herbst dauern wird, bis die zur Verfügung stehen. Andererseits ist man ja immer wieder erstaunt, wie die Dinge in dieser Zeit beschleunigt werden.

Kann man von zu viel Impfung auch krank werden?

Tetanus wurde ja eine Zeit lang quasi bei jeder Gelegenheit geimpft. Man hat dann festgestellt, dass es bei sehr häufiger Impfung zu einer Anschwellung der Lymphknoten im Abflussgebiet des Impfstelle kam. Aber systemische, schwere Nebenwirkungen von Mehrfachimpfungen sind bislang nicht bekannt.

Wer legt denn genau fest, wer wann eine Auffrischungsimpfung bekommen sollte?

Wer bekommt ihn?

Hochbetagte, Pflegebedürftige und andere Risikogruppen. Zudem können sich diejenigen nachimpfen lassen, die mit einem Vektorimpfstoff (AstraZeneca, Johnson & Johnson) den ersten Impfschutz erhalten haben.

Wann und wie läuft das?

Geimpft werden soll ab September mit einem der mRNA-Impfstoffe und zwar frühestens 6 Monate nach der Grundimmunisierung. Vor allem in Altenheimen soll es wieder mobile Impfteams geben.

Im Prinzip sollte das die Stiko machen. Aber die Stiko kann es natürlich nur machen, wenn sie entsprechende Daten, Erkenntnisse, Erfahrungen hat, auf deren Grundlage sie eine Empfehlung aussprechen kann. Da wird sicher wieder gesagt, die böse Stiko macht das nicht. Aber wie sollen wir sonst vorgehen?

Wenn wir noch nicht wissen, wer genau gefährdet ist, und das Risiko nach Ihren Ausführungen überschaubar ist, könnte man sicherheitshalber doch einfach großzügig auffrischen.

Das ist ja das, was die Gesundheitsministerkonferenz jetzt beschlossen hat.

Ist das eine für Sie nachvollziehbare Herangehensweise, die einfach nur von Ihrer abweicht?

Ich denke, das ist eine politisch mögliche Entscheidung. Es darf halt nicht falsch etikettiert werden. Es muss klar gesagt werden, dass jetzt alle älteren Leute zur Nachimpfung kommen sollen, weil man denkt, das schadet nicht und weil man auf keinen Fall will, dass wieder Menschen im Altenheim sterben. Das ist dann keine evidenzbasierte Empfehlung, das ist ja klar, sondern eine politische Vorsorgemaßnahme.

Wann ist von der Stiko mit einer evidenzbasierten Empfehlung zu den Nachimpfungen zu rechnen?

Das liegt auf jeden Fall in einer anderen zeitlichen Dimension als die aktualisierte Empfehlung zu den Kinderimpfungen, die sehr bald kommen wird. Sie dürfen im Übrigen nicht denken, dass wir erst eine Entscheidung fällen, wenn wir „alle“ Daten haben. Im Grunde ist bei unserer Arbeit immer die Frage: Mit wie viel fehlender Evidenz können wir leben?