Roman „Levys Testament“ von Ulrike Edschmid: Alles ist Jetzt

Ulrike Edschmids Œuvre führt vor, wie der Blick auf die Vergangenheit zu Literatur wird. In „Levys Testament“ tun sich jedoch Grenzen auf.

Die Autorin schaut mit verschränkten Armen in die Kamera.

Ulrike Edschmids neuer Roman wirft Fragen auf Foto: Jan-Philipp Strobel/picture alliance/suhrkamp

Was erzählt wird, ist in dem Moment, wenn es erzählt wird, immer schon vergangen. Das Erzähltempus Präsens, das heute bei vielen Neuveröffentlichungen verwendet wird, erzählt oft, als würde man neben der Handlung herjoggen. Man wird minutiös über alle Ereignisse informiert, und der Abstand zum Erzählten verändert sich nicht.

Ulrike Edschmid verwendet in ihren Romanen das Präsens völlig anders. Im Moment des Erinnerns, der Schneisen in die Vergangenheit schlägt, ist die Vergangenheit immer wieder neu präsent.

„Die Heizung in der Sozialbauwohnung wird am Nachmittag abgestellt. Erst am Abend springt sie wieder an. Ich friere, während die Mutter am Tisch eine Kiste mit Fotos öffnet. Es sind nicht einfach Fotos, wie sie in meiner Familie in irgendwelchen Schubladen oder Kisten liegen, vorteilhaft oder unvorteilhaft, aber stets dem Augenblick abgerungen. Diese Bilder sind eine Beschwörung.“

Ulrike Edschmid hat eine eigene Antwort gefunden auf die Frage, wie Autofikion das Tagebuch verlässt. Ihr berichthafter Stil erzeugt Fragen an das Festgehaltene. Sie erzählt nicht von sich. Sie erzählt davon, wie sich ihre Blickachse auf das, was sie erlebt hat, verschiebt.

Prot­ago­nis­t*in­nen sind Personen der Zeitgeschichte

Oft wurde Edschmids Werk wegen dieser Notatenhaftigkeit für autobiografisch gehalten. Was sie schreibt, lässt sich anhand von Sachbüchern und Wikipedia-Artikeln nachprüfen. Oft sind die Prot­ago­nis­t*in­nen ihrer Bücher Personen der Zeitgeschichte, wie ihr ehemaliger Lebensgefährte Philip. S., beteiligt an der „Bewegung 2. Juni“, oder im aktuellen Roman der als Gründer des Frankfurter Gallus-Theaters leicht zu identifizierende Brian Michaels, ebenfalls zeitweiliger Lebensgefährte und langjähriger Freund Ed­schmids, dem schon „Nach dem Gewitter“ gewidmet war.

Ulrike Edschmid: „Levys Testament“. Suhrkamp, Berlin 2021. 144 Seiten, 20 Euro

In „Levys Testament“ erscheinen Momente, die in die Erzählzeit von „Philip S.“ passen: das Leben der Erzählerin in Frankfurt, die Rückkehr in die Fabriketage in Schöneberg. In einer Art „fehlende Teile“ füllt Edschmid in „Levys Testament“ Lücken in der Erzählung früherer Texte und lässt hier wohl wieder Lücken, die spätere Bücher füllen können.

Sie folgt dem Theatermacher Brian Michaels, der im Buch nur „der Engländer“ genannt wird, vom Moment ihrer Begegnung bis in die Jetztzeit und folgt mit ihm den Spuren seiner Familie in Fotos und berichteten Erinnerungen. Spuren bilden einen roten Faden des Romans, bis hin zur Lieblingsfußballmannschaft des Protagonisten, den „Spurs“.

Fußball, eine Kindheit am unteren Rand der Mittelschicht. Eine Liebe, die sich nie verdichtet. Die politischen Unruhen der 70er, Hausbesetzungen, der Versuch, an der Basis (den Fabriken, den Schulen) etwas zu verändern. Dahin fahren, wo etwas zu tun ist, Portugal, die Nelkenrevolution, der spanische Kampf gegen Franco, eine bessere Welt nicht mit dem Urnengang oder einer Petition zu erreichen, sondern loszufahren und den Kampf vor Ort zu unterstützen.

Edschmid erzählt oft von Fotos aus

Als sich ihre Wege trennen, verlässt die Perspektive die Erzählerin und heftet sich an den Engländer. Auf Zwischenhalten erzählt er ihr von den Entdeckungen seiner Familiengeschichte. Die gelernte Dokumentarfilmerin Edschmid geht in ihren Büchern oft von Fotos aus. Das beharrliche Präsens in ihrem Werk, der Blick auf die Vergangenheit, zeigt, wie etwas zu Literatur wird: durch Festhalten und Loslassen.

Wenn es funktioniert. „Levys Testament“ zeigt die Grenzen dieser Vorgehensweise. Die Beobachtungen und Erinnerungen ihrer früheren Texte erhielten Perspektive und Struktur durch Fragen danach, wie jemand zu einer gewaltvollen Person wird und was die Momente im Leben eines Menschen sind, die hängen bleiben. Die hier gestellte Frage wird dagegen als Plot erzählt. Wer hat wann was gemacht, gewusst, verschwiegen, und zudem: besessen, verkauft, unrechtmäßig erworben.

Mit der Handlung um den jüdischen Patriarchen Levy in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir mitten in der kriminellen Unterwelt Londons, mafiöse Strukturen, unter denen einfache Leute, Arbeiter und Mieter zu leiden haben, und einem schiefgegangenen Coup im Jahr 1924.

Aus dem Leben des Theatermachers aus England mit Wurzeln in Polen wählt Edschmid ausgerechnet das Jüdischsein seiner Vorfahren als Fluchtpunkt und Titel aus: Levys Testament. Das Jüdischsein wird dabei nicht als Religion, sondern rein als Herkunft erzählt, als eine Bewegung von Mi­gra­tions­routen. Und fast immer tritt es in Zusammenhang mit Geld auf: teuren Autos, Immobilienbesitz, den Rothschilds.

Die Frage nach Urheberschaft und Schuld stellt Kausalitäten her, wo Edschmids Stärke im suggestiven Präsens sonst darin lag, Zusammenhänge im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Die Heimatlosigkeit des Engländers, seine Versehrtheit durch Schweigen, ein Thema, das den ganzen Text durchzieht, resultieren in dieser Engführung aus den kriminellen Handlungen jüdischer Banden.

Antisemitische Topoi

Levys Name findet sich „neben Rothschild auf einem Gedenkstein der Fieldgate Synagoge in Bethnal Green“. Dieser Name fällt auf in einem Text, der ohne die Nennung von Namen auskommt. Dieser Fokus wird noch verstärkt mit den antisemitischen Topoi des ewig wandernden Juden und des alle antisemitischen Verschwörungserzählungen prägenden Themas des Verrats.

Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist nach Polen und Bulgarien ausgelagert, und es ist der Engländer, der kein Problem hat, in Frankfurt in der Fabrik zu arbeiten, die das Gas für die KZs hergestellt hat.

„In den Diskussionen der Betriebsgruppen argumentiert der Engländer aus dem Blickwinkel der Arbeiterklasse, nicht als Jude. Juden – das sind die Frankfurter Häuserspekulanten. Degussa ist ein Betrieb wie jeder andere, in dem Menschen ausgebeutet werden, besonders die Gastarbeiter.“

Wenn der Text vom Schweigen des Vaters spricht, „das den Zugang zu seiner Vergangenheit verwehrt“, geht es um die Schuld des Großvaters: „Levys Testament hat Weichen gestellt – für Wohlstand oder Bedürftigkeit, für Zugehörigkeit oder Ausgeschlossensein. Der größte Teil der Verwandtschaft gehörte dem einen Leben an, die kleine Familie des Engländers war von dem anderen gezeichnet. Worin auch immer Jacob verwickelt war, er hat dafür mit dem Leben bezahlt. Sein Sohn Joseph hat seine Kindheit und Jugend hingegeben. Der Engländer hat die Last des Schweigens getragen.“

Fokus auf jüdische Kriminalität wirft Fragen auf

Über Schweigen und Heimatlosigkeit in der jüdischen Community zu schreiben mit dem Fokus auf jüdische Kriminalität, und die Nachwirkungen des Holocaust in Deutschland auszusparen, erzeugt eine Leerstelle im Text, die pochende Rückfragen an die Autorin stellt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Es muss nicht Antisemitismus sein, der dahintersteckt, aber als Dokumentarfilmerin muss sich Edschmid Fragen an die Auswahl und Zusammenstellung ihres Materials gefallen lassen.

Die Frage nach Leerstellen und Auslassungen beschäftigte die Kritik schon einmal, als die Autorin Edschmid 1999 den Briefwechsel ihres Schwiegervaters Kasimir Edschmid mit der ins Londoner Exil gegangenen jüdischen Zeichnerin und Autorin Erna Pinner herausgab. Er trug den bezeichnenden Titel „Wir wollen nicht mehr darüber reden“.

Sie habe „akzentuiert und skelettiert“, bis ein „Konzentrat“ freigelegt worden sei, schrieb Ulrike Edschmid im Vorwort, jedoch ohne dass diese Bearbeitungen für das Publikum nachvollziehbar oder kenntlich gemacht waren.

Julia Schröder rätselte im Deutschlandfunk, „was mit dem so beschriebenen Verhältnis von Authentizität und Wahrheit gemeint sein soll“, während sie nach der Bedeutung der Leerstellen fragte, und Walter Hinck sprach in der FAZ von einem „editorischen Verdunklungsfall“.

Der Titel entstammt einem Brief Kasimir Edschmids, in dem er auf Pinners Gedanken über ihre ermordete Familie und die Verwendung von Häuten als Lampenschirme eingeht, und lautet vollständig: „Wir wollen aber nicht mehr darüber reden, und ich will keine Missverständnisse.“

Wozu dienen Auslassungen?

Wo lassen Auslassungen frei? Und wen? Und wo erhellen Narrative? Und wo verdunkeln sie? Wo stellen sie Fragen, und wo schließen sie Fragen ab? Beruhigen sie? Wen beruhigen sie?

Die Poetik Edschmids trägt große Teile des Romans, bevor sie sich in einem Plot verfängt, der mehr Whodunit ist als suchendes Fragen oder nüchterne Erinnerung, und der dem Roman den Titel gibt: den Umständen und Konsequenzen von Levys Testament.

Ein Testament ist etwas, das etwas festhält, das weitergibt, aber auch auslässt. So weit entspricht es der Erzählstrategie Edschmids. In „Levys Testament“ geht es aber weniger um das Erinnern und Vergessen, sondern vielmehr um die Vergangenheit in der Gegenwart. Im Tempus Gegenwart erzählt, bis man die Distanz vergisst, die zwischen jetzt und dem Erzählten liegt.

Diese Distanz fehlt. Die Vergangenheit in der Gegenwart zu erzählen, wäre möglich gewesen, ohne sie in Eindeutigkeiten zu erklären. Ihre Auswirkungen zu zeigen, die Fragen, die sie ans Heute und im Heute immer noch stellt – nicht an die ungelösten Rätsel der Vergangenheit mit dem Ergebnis: Ach, so war das. Die (jüdische) Familie war schuld.

Krimineller Hang zum Geschäftemachen

Diese Erklärungen müssen immer der Frage standhalten: Wem nützen sie? Und gibt eine Erklärung für jüdische Versehrtheit und Orientierungslosigkeit, die deutsche Schuld ausspart und einen kriminellen Hang jüdischer Familien zum Geschäftemachen ins Zentrum stellt, die Wirklichkeit wieder? Diese Verbindung ist ein deutlich antisemitisches Stereotyp, das immer wieder verwendet wurde, um Juden Schuld an ihrem Ergehen zuzuweisen.

Das Problem mit Auslassungen ist, dass sie einerseits durch die Freiheit, die sie dem Leser für eigene Gedanken lassen, Kunst ermöglichen, aber zugleich die Gefahr besteht, Wesentliches und mehr noch Problematisches auszusparen und den Fokus von blinden Flecken wegzulenken.

Wie in allen ihren Texten funktioniert die eigenwillige Sprache der 80-jährigen Autorin Edschmid für die Untersuchung, wie Leben erzählt werden kann, was die Erinnerung auswählt, und welche Brüche sie lässt.

Mit den dadurch aufgeworfenen Fragen rutscht der Text in Kausalitäten, die nicht nur die präzise Beobachtung trüben, sondern auch den Stoff ersticken. Dass er das Jüdischsein des Protagonisten mit der Suche nach Schuldigen vermengt und außerhalb der Deutschen zu füllen sucht, wirft Fragen auf, für die der Text kein Gegengewicht hat.

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