Ein Fahrplan für die globale Nulldiät

Energieagentur IEA zeigt erstmals den Weg zu einer globalen Energieversorgung ohne CO2: Kohle-Aus bis 2040, Schluss mit fossilen Investments, Hilfen für arme Länder

Schlechte Nachrichten für Datteln 4: Schon 2030, nicht erst 2038, muss der Kohleausstieg in den Industrie­ländern kommen, sagt die IEA Foto: Paul Langrock

Von Bernhard Pötter

Geht es nach ihrem Vorsitzenden, dann hat die nächste UN-Klimakonferenz im November in Glasgow (COP26) einen Hauptfeind: die Kohle. „Wenn es uns mit dem 1,5-Grad-Ziel ernst ist, dann muss Glasgow die Konferenz sein, die das Kapitel Kohle abschließt“, sagte Alok Sharma, der ehemalige britische Wirtschaftsminister und designierte COP26-Präsident in der vergangenen Woche. „Das Kohlegeschäft geht in Rauch auf, es ist alte Technologie.“

Sharma und UN-Generalsekretär Antonio Guterres haben nun in ihrem Feldzug gegen den dreckigsten Brennstoff ein gewichtiges Argument mehr: Am Dienstag veröffentlichte die Internationale Energieagentur (IEA), eine Behörde des Industrieländerclubs OECD, auf ihre Bitte hin zum ersten Mal eine umfassende Studie, wie der Energiesektor weltweit seine CO2-Emissionen auf null reduzieren könnte.

Einige der zentralen Aussagen der Untersuchung mit dem Titel „Net Zero by 2050“: Ab sofort darf es keine neuen Öl- oder Gasfelder mehr geben, keine neue Kohlegruben oder Kohlekraftwerke, die ihre Abgase nicht neutralisieren. Und: Alle Investoren werden gewarnt, ihr Geld in die fossilen Rohstoffe zu stecken.

„Unser Plan zeigt die wichtigsten Aktionen, die es heute braucht, damit die schmale, aber immer noch erreichbare Chance auf Nullemissionen in 2050 nicht verloren geht“, sagt IEA-Exekutivdirektor Fatih ­Birol. Der Bericht soll zeigen, dass viele Ziele gleichzeitig erreichbar sind: Nullemissionen, sicherer Zugang zu Energie für alle Menschen weltweit bis 2030, bezahlbarer Strom und Wirtschaftswachstum.

Dafür brauche es aber eine „bisher nie gekannte Veränderung darin, wie wir Energie herstellen, transportieren und nutzen“, heißt es. Das Gutachten rechnet vor: Weltweit müssten jedes Jahr Anlagen von 630 Gigawatt (GW) an Solarstrom und 390 GW Windstrom gebaut werden: viermal so viele wie im Rekordjahr 2020. Zum Vergleich: Alle deutschen Ökostromanlagen haben eine Leistung von etwa 125 GW.

Für den Crashkurs zur Klimaneutralität müsste die Welt die Energieeffizienz dreimal so schnell steigern wie bisher. Auch der Ausstieg aus den Fossilen ist ehrgeizig: Ab sofort keine neuen Kohlekraftwerke ohne CO2-Einlagerung mehr; ab 2025 keine neuen fossilen Heizungen; ab 2030 Kohleausstieg in den Industrieländern; ab 2035 weltweit keine neuen Autos mehr mit Verbrennungsmotoren. Strom in den Industrieländern muss dann CO2-frei produziert werden, ab 2040 ist das überall so.

Für alle diese Pläne muss viel Geld fließen, mahnt die IEA. Die Investitionen in Netze für Strom und Pipelines für CO2, müssten von jetzt 260 auf 820 Milliarden Dollar jährlich weltweit steigen. 2030 fließen demnach 5 Billionen Dollar in den Energiesektor.

Schon für 40 Milliarden Dollar im Jahr könnten alle Menschen Strom bekommen

Gleichzeitig müsse viele mehr Geld in Forschung und Entwicklung investiert werden, fordern die Experten: Denn die Techniken, die man auf dem Weg zum sauberen Energiesystem bis 2030 brauche, gebe es schon – aber bis zur Nettonull im Jahr 2050 müsste noch sehr viel erforscht und entwickelt werden, etwa in Batteriezellen und Wasserstofftechnologie.

Das Gutachten ruft ein halbes Jahr vor der COP26 dazu auf, dass alle zusammenarbeiten müssten, wenn diese Vision umgesetzt werden solle. Dass das nicht einfach wird, steht ebenfalls in dem Papier: Denn manche Staaten verlieren bis zu 10 Prozent ihrer Wirtschaftskraft bei Verzicht auf fossile Brennstoffe – und manche Regierungen bis zu 40 Prozent ihrer Steuereinnahmen, wenn Öl, Gas und Kohle nicht mehr besteuert werden.

Die IEA ermahnt die Industrieländer auch indirekt, bei den Klimaverhandlungen mehr Geld für die Armen auf den Tisch zu legen. Schon für vergleichsweise lächerliche 40 Milliarden Dollar jährlich – ein Prozent der derzeitigen Energie-Investitionen – ließe sich garantieren, dass 785 Millionen Menschen Strom und 2,6 Milliarden Menschen saubere Kochgelegenheiten bekämen, die sie bisher nicht hätten. Das bringe große Fortschritte für Gesundheit und Wohlstand, hieß es. „Die saubere Energiewende muss fair für die Menschen sein und niemanden zurücklassen“, sagte IEA-Chef Birol. „Wir müssen sicherstellen, dass die Entwicklungsländer technisches und finanzielles Know-how dafür bekommen“. Das Signal Richtung Glasgow ist klar: Wer politische Fortschritte will, muss Hilfe anbieten.

„Wind und Sonne gehören die Zukunft – und Investitionen in fossile Energien müssen ein schnelles Ende finden, weltweit“, erklärte WWF-Klimaexpertin Viviane Raddatz zum IEA-Bericht. „Leider folgen dieser Erkenntnis in Deutschland noch nicht die nötigen Taten.“ Jetzt müssten die Erneuerbaren stärker ausgebaut werden und „fossile Vorhaben auf den Prüfstand“.