100. Geburtstag von Joseph Beuys: Raus aus dem Kino, rein ins Museum
Happy Birthday, Joseph Beuys: Statt ihm weiter Altare zu bauen oder ihn als Hitlerjungen zu verdammen, sollte man sich seinem Werk zuwenden.
Im Hamburger Bahnhof, wo die Beuys-Arbeiten der Sammlung Marx zu Hause sind, trifft man auf eine Barriere aus 21 Basaltsteinen, ergänzt um einen Hubwagen und eine Brechstange: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“, um 1983 entstanden, wirkt seltsam sakral, trotz der Maloche, für die der Hubwagen spricht; das Ensemble scheint aber auch ein bisschen zu kalauern, mit diesem Gestus der Tatkraft, den das schwere Gerät und die schweren Steine heraufbeschwören; vor allem aber scheint es einigermaßen unerklärlich.
Reizt das Arrangement, mehr darüber zu erfahren? Oder erweckt es nicht den Eindruck, es handle sich mehr um eine Memorabilie oder eine Art Reliquie als um ein Kunstwerk? Ins kollektive Gedächtnis ist Joseph Beuys (1921–1986) als Aktionskünstler eingeschrieben, als sprechender Künstler und als politischer Künstler, dazu Aktivist der Friedensbewegung und der Grünen.
Auch die, die ihn nie live gesehen haben, erinnern ihn so. Dem Medienzeitalter des 20. Jahrhunderts gedankt, waren er und seine Aktionen durch Film- und Tonaufzeichnungen sowie Fotografien im bundesrepublikanischen Alltag der 1970er und 1980er Jahre omnipräsent.
Seine Kunstwerke scheinen ohne ihn kaum zu funktionieren, denkt man etwa an die berühmte „Honigpumpe am Arbeitsplatz“, 1977 auf der documenta 6 installiert. Die ganzen 100 Tage war er anwesend, um im nahebei eingerichteten Diskussionsforum der von ihm gegründeten Free International University mit den Besucher:innen zu diskutieren.
Kraftwerk der sozialen Skulptur
Er war das Kraftwerk der Sozialen Skulptur, auch wenn er anderen, wie Gewerkschafter:innen, Rechtsanwält:innen, Schauspieler:innen, Journalist:innen, Wirtschaftsexpert:innen, Musiker:innen und vielen mehr das Wort überließ, während der mit Wasser verdünnte Honig durch das Kreislaufsystem aus Röhren und Schläuchen gepumpt wurde. Man möchte daher meinen, ohne ihn wirke das Arrangement schal und ohne Reiz.
Aber vielleicht täuscht das? Sollte man Beuys’ hundertsten Geburtstag nicht zum Anlass nehmen, ins Museum zu gehen und in seinen dortigen Hinterlassenschaften noch einmal nach ihm zu schauen? Schließlich kann man ja nicht ewig in Andres Veiels Beuys-Film sitzen bleiben und mit dem Filmautor dem Charisma des Mannes verfallen, der in seinem Standard-Outfit mit Filzhut, Jeans, weißem Hemd, Anglerweste (mit Hasenpfote als Talisman, variabel ergänzt durch Militär- und Pelzmäntel, einer davon aus Luchsfell) auch dem letzten Kunstbanausen eine bekannte Erscheinung war.
Und so sehr Beuys’ leuchtende Kinderaugen in seinem ausdrucksstarken Gesicht faszinieren, die Passionsgeschichte, zu der der Regisseur Veiel Beuys’ künstlerischen Werdegang hochjazzt, nimmt man ihm eh nicht ab. Warum sollte man auch? Sich als Opfer zu sehen, wäre Beuys nicht in den Sinn gekommen; sich etwa darüber zu beklagen, dass ihn die Grünen – obwohl er ihnen so viel mediale Aufmerksamkeit beschert hatte – nach ihrem erfolgreichen Einzug in den Bundestag 1983 abservierten.
Er war ja ein Star. Der berühmteste Künstler der Bundesrepublik. Mit seiner Einzelausstellung im Solomon Guggenheim Museum in New York 1979 personifizierte er das Comeback der deutschen Kunst nach der Zeit des Nationalsozialismus und den Nachkriegsjahren, Jahrzehnte bevor Gerhard Richter diese Rolle angedient wurde.
Selbststilisierung
Also doch mal die Werke anschauen. Weil man gar nicht mehr weiß: Wie sehr verdankt sich Beuys’ Ruhm seiner Selbststilisierung? Oder dem Streit der Biografen und Kritiker, die zuletzt in ihm nur noch den Esoteriker und Rudolf-Steiner-Anhänger erkannten?
Wobei man, nebenbei bemerkt, gerne wüsste, wer von ihnen allen in Waldorfschulen sozialisiert wurde. Seine Ideen sahen sie, wie die Beuys-Forscher Frank Gieseke und Albert Markert, wesentlich aus faschistischem und neurechtem Gedankengut hergeleitet, der Kunsthistoriker Beat Wyss sekundierte, indem er einen „ewigen Hitlerjungen“ diagnostizierte.
Auslöser der Debatte war unter anderem die Legende um seine Rettung durch Tataren nach dem Abschuss seines Sturzkampfbombers auf der Krim. Im Katalog der Guggenheim-Ausstellung erstmals groß ausgebreitet, wurde die Erinnerung von der US-amerikanischen Kritik sofort und zu Recht angezweifelt. Der Kunsthistoriker Benjamin Buchloh vermutete, Beuys hätte diesen Mythos von Filz und Fett als heilendes Material aufgebracht, um seine Beteiligung an Krieg und Faschismus zu verdrängen.
Doch was hat Beuys eigentlich jenseits dieser Saga mit dem Fett und dem Filz gemacht? Dieser Frage geht der Schweizer Kunsthistoriker Philip Ursprung in seiner Monografie zu Beuys nach („Joseph Beuys. Kunst Kapital Revolution“, Beck 2021), und zwar anhand von dessen berühmtem „Stuhl mit Fett“. Ursprungs Recherchen zufolge entstand der Stuhl im Wintersemester 1963 in der Akademie in Düsseldorf, wo Beuys die Professur für Monumentalbildhauerei hatte.
Fett gegen NS-Körperkult
Mutmaßlich wollte Beuys die Grundlagen der Plastik erläutern, und weil er sich – wie es seine Kritiker richtig bemerkt, aber vielleicht etwas allzu einseitig interpretiert hatten – in seinen Ideen tatsächlich auf die NS-Zeit bezog, sah seine Körperplastik gewöhnungsbedürftig aus.
Beuys stand der Abstraktion, über die sich die Mehrheit der Künstler*innen nach dem Krieg von der nationalsozialistischen Ikonografie zu distanzieren suchte, skeptisch gegenüber. Sein Weg, sich von den gepanzerten Heroen des NS wie der Abstraktion zu unterscheiden, fand er nach Ursprung im Bild des durchlässigen, verwundbaren und vergänglichen Körpers.
„Fett und Körperflüssigkeiten standen im Gegensatz zu Muskeln und Haut, die für die nationalsozialistische Körperdarstellung typisch waren. Stuhl mit Fett ist somit das Gegenteil eines heroischen Standbilds.“
Die Zeitgenossen erkannten sehr wohl, wenn auch nur unbewusst, die Blasphemie dieser Sitzfigur aus einem hingesunkenen Torso ohne Arme und Beine, dafür mit einem aufgeblähten Bauch, darauf lassen die aufgebrachten und sehr aggressiven Reaktionen auf die Arbeit schließen. Beliebt und entlarvend sind die misogynen Geschichten von den Putzfrauen, die angeblich das Fett wegräumten und saubermachten, weil Kunst da ja wohl nicht erkennbar war.
Idee des Neubeginns hat ihn nicht interessiert
Aber säubern, was Beuys angeht, wollen das womöglich gar nicht die Frauen, die putzen, sondern vor allem Männer, die sich in der öffentlichen Debatte zu profilieren suchen? Ist nicht Abräumen, mit etwas endgültig fertig sein, ihr Ding? Beuys hat die Idee des Neubeginns nicht interessiert, „die tabula rasa“, bemerkt Ursprung richtig, „kommt in seinem Werk nicht vor“.
Lange bevor Beuys seine Erfahrungen verbalisierte und mystifizierte, waren der Zweite Weltkrieg und – ganz anders als sonst in der Kunst der Nachkriegszeit, wo er verdrängt wurde – der Holocaust bildnerisch von Anfang an in seinen Arbeiten gegenwärtig.
Die Vitrine „Auschwitz Demonstration“ (1956–1964), kleinteilig mit Wurstzipfeln, einer toten Ratte, zwei Fettblöcken, einem Zollstock, einem Kruzifix sowie der Zeichnung einer verletzten Frau auf einer Bahre bestückt, mag zunächst in ihrer Aussage undeutlich erscheinen. Allerdings, wird man dann der wie ein Leporello aufgefalteten Panoramafotografie des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gewahr, lädt sich das Arrangement schlagartig mit der Geschichte dieses Menschheitsverbrechens auf.
Daher erstaunt, dass die Vitrine die längste Zeit nicht wahrgenommen wurde. Weder als Beuys sie erstmals am rechten Ort, nämlich dem Münchener Haus der Kunst, aufbaute und der Spiegel sie zwar fotografisch abbildete, freilich ohne ihren Titel zu nennen.
Noch wurde die „Auschwitz Demonstration“ in Götz Adrianis mit Winfried Konnertz und Karin Thomas 1973 verfasster Monographie „Joseph Beuys“ erwähnt. Und auch 1979 in New York, wo die Vitrine den Auftakt seiner Ausstellung im Guggenheim Museum bildete, gab es darauf so gut wie keine Reaktion, während um die Tataren der große Streit entbrannte.
Was dann doch sehr viel über die Rezeption von Beuys’ Werk aussagt und darüber, wo man eher weg- und wo man eher hinschaute. Vielleicht lohnt es aber, jetzt noch einmal neu hinzuschauen. „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ im Hamburger Bahnhof in Berlin befindet sich ja in einer Stadt, in der inzwischen Peter Eisenmans Holocaust-Mahnmal berühmt ist, mit seinen Betonstelen, gar nicht so unähnlich Beuys’ Basaltsteinen.
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