„Ein Baustein für mehr psychische Gesundheit“

Irina Theisen, Psychologin von der Beratungsstelle des Studierendenwerks, über die Auswirkungen des fehlenden Präsenzunterrichts und die zunehmenden Belastungen im Onlinestudium

Foto: Studierendenwerk

Irina Theisen

44, leitet seit fünf Jahren die Psychologisch-Psychotherapeutische Beratungsstelle des Studierendenwerks Berlin.

Interview Oscar Fuchs

taz: Frau Theisen, nach einem Jahr Corona läuft seit Montag schon das dritte Onlinesemester. Welche psychischen Auswirkungen beobachten Sie unter den Studierenden?

Irina Theisen: Die Auswirkungen sind sehr deutlich, wir haben im Vergleich zu den Vorjahren eine große Veränderung wahrgenommen. Im ersten Lockdown waren wir überrascht, dass sich die Zahl der Ratsuchenden in Grenzen hielt. Im Verlauf des vergangenen Jahres haben sich dann immer mehr Studierende Hilfe gesucht. Vor allem im zweiten Lockdown wurden die negativen Effekte der Coronakrise deutlich häufiger angesprochen als noch im ersten.

Wie laufen die Beratungen trotz Kontaktbeschränkungen ab?

Die meisten Studierenden beraten wir teils telefonisch und teils in Person. Außerdem sprechen wir in Videotelefonaten mit den Studierenden. Wir sorgen dafür, dass sie ungestört sind und in einem sicheren Umfeld telefonieren können. Bisher haben wir damit sehr gute Erfahrungen gemacht.

Von welchen Problemen hören Sie besonders oft?

Depressive Verstimmungen waren wie in den Vorjahren der häufigste Grund für Beratungstermine. 2020 stieg das aber nochmals an. Ängste, Erschöpfung, Stress und psychosomatische Beschwerden wurden ebenfalls häufiger angegeben. Ein weiteres großes Problem ist die Einsamkeit unter den Studierenden.

Trifft die Einsamkeit bestimmte Gruppen mehr als andere?

Für Studierende, die neu in der Stadt sind, ist es besonders schwierig, egal ob aus dem In- oder Ausland. Ihnen fehlt die Möglichkeit, soziale Kontakte zu schließen. Viele wissen nicht einmal, mit wem sie zusammen studieren, weil in den Videokonferenzen so viele Kameras ausgeschaltet bleiben. Das Gefühl, dass sich das ganze Leben in einem einzigen Raum abspielt, wird durchaus auch thematisiert.

Wie wichtig ist das soziale Umfeld gerade jetzt?

Wie gut Studierende mit der Situation zurechtkommen, hängt sehr davon ab, auf welche Ressourcen sie zurückgreifen können. Es kommt einerseits darauf an, wie ihre finanzielle Lage aussieht, ob sie Nebenjobs verloren haben oder weiterhin abgesichert sind. Andererseits spielen auch die Wohnverhältnisse eine wichtige Rolle.

Inwiefern?

Für Studierende, die in einer sicheren und eingespielten WG leben, ist die Lage einfacher als für diejenigen, die wieder zu ihren Eltern zurückgezogen sind. Viele haben die Stadt letztes Jahr verlassen. Besonders isoliert fühlen sich Studierende in Einzelappartements.

Welche Veränderungen beobachten Sie bei Studierenden, die schon vor Corona in die Beratung kamen?

Essstörungen, die schon vor der Pandemie verbreitet waren, haben sich noch mal verschärft. Zwangsstörungen geben den Betroffenen oftmals ein Gefühl von Kontrolle zurück. Gerade jetzt hat sich diese Problematik verschlechtert.

Wie nehmen Sie die Stimmung mit Blick auf die Onlinelehre wahr?

Insgesamt wirkt die Stimmung sehr schlecht. Wie in weiten Teilen der Gesellschaft sorgt die Pandemie für Zermürbung und Müdigkeit. Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten ist groß. Viele Studierende beklagen sich über eine fehlende Perspektive und möchten wissen, wann sie wieder in die Hochschulen können. In den großen Hörsälen wäre das mit Testkonzepten ja möglich. Viele sind frustriert, dass es zu diesem Zeitpunkt noch immer so wenige Schritte für eine Öffnung gibt.

Wie sehen Sie das?

Ich fände es super, wenn es ganz langsam wieder Veranstaltungen in Person gäbe. Gesundheit ist etwas Ganzheitliches. Der Infektionsschutz muss eine hohe Priorität haben, doch es geht auch um die geistige Gesundheit. Ich glaube, dass zumindest ein paar Präsenzveranstaltungen ein Baustein für mehr psychische Gesundheit wären. Dann würde sich die Stimmung auch in der Onlinelehre verbessern.