Ausschöpfen aller Instanzen

Caster Semenyas Kampf um Gerechtigkeit, der sie jetzt vor den Gerichtshof für Menschenrechte führt, hat selbst im Fall eines Scheiterns den Sport verändert

„Alles, was wir wollen, ist die Erlaubnis, frei zu laufen“

Caster Semenya möchte bald wieder über 800 Meter im Wettbewerb der Frauen antreten

Eigentlich ist sie Spezialistin über 800 Meter, doch ihr wichtigster Kampf gleicht einem Marathon: Caster Semenya nimmt erneut den Gang vor ein Gericht auf sich und zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die 30-jährige mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin will damit erreichen, dass sie wieder auf ihrer Paradestrecke starten darf. Bislang verbietet die so­genannte Testosteron-Regel des Weltleichtathletikverbandes (IAAF) Frauen, die einen natürlich erhöhten Testosteronwert haben und diesen nicht medikamentös senken wollen, die Teilnahme an Laufwettkämpfen von 400 Metern bis einer Meile. Der erhöhte Hormonspiegel soll einen leistungssteigernden Effekt haben.

„Ich hoffe, der Europäische Gerichtshof wird die langjährigen Menschenrechtsverletzungen gegen Athletinnen durch die IAAF beenden“, twitterte die 30-jährige Südafrikanerin. „Alles, was wir wollen, ist die Erlaubnis, frei zu laufen.“ Semenyas Klage vor dem Sportgerichtshof (CAS) wurde 2019 abgelehnt, mit der Begründung der Richter, dass der Ausschluss von intersexuellen Läuferinnen zwar diskriminierend sei, aber notwendig, um Chancengleichheit zu wahren. Zuletzt hatte im September 2020 das Schweizer Bundesgericht Semenyas Beschwerde gegen dieses Urteil zurückgewiesen.

Die Aktivistin für Athlet*in­nen­rechte, Payoshni Mitra, begrüßt den Schritt von Caster Semenya. Sie betont aber auch, dass es nicht nur um die Süd­afrikanerin geht: „Es gibt so viele weniger bekannte Athletinnen, die sehr leiden. Sie erleben ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Viele versuchen einen neuen Job außerhalb des Sports zu finden – wegen des Verlusts der Lebensgrundlage aufgrund dieser Vorschriften.“

Der Gang vor den EU-Gerichtshof für Menschenrechte hebt die Diskussion auf eine neue Ebene. „Ja, wir diskutieren hier über Menschenrechte“, sagt Kirsten Witte-Abe vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). „Semenyas Klage ist ein mutiger und wichtiger Schritt, damit die Diskussion über Chancengleichheit im Sport intensiver geführt wird.“

Durch die Konstruktion einer reinen Zweigeschlechtlichkeit, die im Sport bisher zwingend schien, würden Menschenrechte verletzt; darauf wies im Dezember 2020 auch Human Rights Watch hin und kritisierte die IAAF und das Internationale Olympische Komitee (IOC) für das Festhalten an der Testosteron-Regel scharf. Das IOC kündigte daraufhin an, seine Haltung zur umstrittenen Regelung zu überprüfen. Die IAAF hat eine Arbeitsgruppe für Menschenrechte ins Leben gerufen.

Diesem fragwürdigen Geschlechterverifikationsverfahren ist auf eine besonders tragische Weise die ugandische Läuferin Annet Negesa zum Opfer gefallen. Sie beschuldigt führende Ärzte der IAAF, sie 2012 zu einem operativen Eingriff gedrängt zu haben – ohne dass sie richtig über den Vorgang und die Konsequenzen informiert war. „Ohne den Fall im Detail beurteilen zu können, bin ich der Auffassung, dass die Verantwortlichen in den Verbänden auch Sorge dafür tragen und sich dafür einsetzen müssen, dass die körperliche Unversehrtheit der Sport­le­r*in­nen unberührt bleibt“, sagt Kirsten Witte-Abe.

Es fällt vor allem dem Leistungs- und Profisport schwer, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu akzeptieren. Was im streng binären Leistungssport durch den Wettkampfgedanken zu Unsicherheiten führt, ist im Breitensport etwas leichter zu verwirklichen. Es gibt mittlerweile viele Vereine, die sich mit ihrem Sportangebot gezielt an Inter*-, Trans*- und nicht-binäre Personen, also Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann fühlen, richten, wie der Berliner Verein Seitenwechsel oder der SC Janus in Köln. Im November 2020 empfahl die Sportministerkonferenz in der „Bremer Erklärung“ allen Vereinen und Verbänden, die Vielfalt an geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen anzuerkennen. Zuvor hatte der Berliner Fußballverband (BFV) eine Regelung erlassen, dass auch Trans*- und In­ter*­men­schen sowie Nicht-Binäre ohne Einschränkungen am organisierten Fußballsport teilnehmen dürfen – der BFV steht mit dieser Entscheidung ziemlich allein da.

Der DOSB richte den Fokus der Bemühungen um Chancengleichheit aktuell vor allem auf den Breitensport, sagt Witte-Abe. „Auch hier gibt es unterschiedliche Ansichten, um dem Anspruch, chancengerecht zu sein, zu genügen. (juh)