: Chinas ökonomische Blaupause
Beim Nationalen Volkskongress entwirft Peking eine Zukunftsvision für die nächsten Jahre. Die Wirtschaft steht dabei vor einem Kurswechsel. Bis 2035 möchte die Regierung den Erzrivalen USA ökonomisch überholt haben
Aus PekingFabian Kretschmer
Der „historische“ Sieg aus Fernost verhallte im Ausland geradezu unbemerkt. Knapp zehn Jahre nachdem Generalsekretär Xi Jinping erstmals vom „chinesischen Traum“ sprach, ist das vielleicht wichtigste Kapitel just zum 100. Jubiläum der Kommunistischen Partei Realität geworden: Ganz offiziell hat die Volksrepublik das Ende der absoluten Armut verkündet. Niemand im Reich der Mitte müsse mit weniger als umgerechnet etwa 1,25 Euro pro Tag auskommen.
Am Freitag wird sich Xi für seine Errungenschaften beim Nationalen Volkskongress vor rund 5.000 Abgeordneten ausgiebig feiern lassen. Die vielleicht wichtigste Veranstaltung im Pekinger Politkalender ist eine Mischung aus Volksfest und Propagandashow: Politiker präsentieren sich in Trachten, Journalisten verfolgen die mit Spannung erwartete Rede von Premier Li Keqiang, und draußen schwingt das Volk am Platz des Himmlischen Friedens rote Flaggen mit goldenen Sternchen. In Zeiten der Pandemie wird das Brimborium jedoch diesmal eine Nummer kleiner ausfallen. Nur wenige Medienvertreter werden in die Große Halle des Volkes gelassen. Genau wie die Diplomaten im Land müssen sie die Nacht zuvor in Quarantäne verbringen und sich testen lassen.
Doch über reine Symbolik geht der Volkskongress weit hinaus. Immerhin stellt Chinas Staatsführung während der siebentägigen Veranstaltung eine Blaupause für seine eigene Zukunft vor. Sowohl ein Fünf- sowie ein Fünfzehnjahresplan werden verabschiedet – höchstwahrscheinlich einstimmig, doch einzelne Abweichler im Scheinparlament kommen hin und wieder vor.
In den vergangenen fünf Jahren hat Xi Jinping seine Bemühungen vor allem auf die Armutsbekämpfung fokussiert. Mit durchaus beeindruckender politischer Verve wurden seither 99 Millionen Menschen in den rückständigen Provinzen aus dem wirtschaftlichen Elend befreit – durch Mikrokredite für Kleinstunternehmer, flächendeckende Arbeitsprogramme und sozialen Wohnungsbau. Doch natürlich kreieren die Propagandakampagnen der Staatsmedien eine überzeichnete Wirklichkeit: Die Messlatte der absoluten Armut hat die Kommunistische Partei extrem niedrig angesetzt, nur ein Viertel verglichen mit der Definition der Weltbank.
In den nächsten fünf Jahren steht nun ein ökonomischer Paradigmenwechsel an, den die Regierung unter dem bewusst vagen Schlagwort „duale Zirkulation“ verkauft. Dahinter steht die Idee, dass künftig der innere Wirtschaftskreislauf – der Binnenkonsum und die heimischen Unternehmen – verstärkt als Wachstumsmotor dienen sollen. Exporte sowie Investitionen aus dem Ausland sollen hingegen eine untergeordnetere Rolle spielen. Vor allem aber möchte China in bestimmten Schlüsseltechnologien autark werden, was als direkte Reaktion auf den Handelskrieg mit Washington zu deuten ist. Nichts soll laut den Parteikadern in Peking den Aufstieg der neuen Weltmacht China gefährden.
Denn bis 2035 möchte man den Erzrivalen USA ökonomisch überholt haben. Dass der Plan aufgeht, wie praktisch jeder der Fünfjahrespläne der letzten Dekaden, ist jedoch keineswegs gesichert. Denn der rasante Aufstieg seit den achtziger Jahren, als Reformer Deng Xiaoping die Wirtschaft geöffnet hat, erfolgte bislang nach allen Regeln des ökonomischen Lehrbuchs.
Nun jedoch steht die Volksrepublik vor strukturellen Herausforderungen. Die Bevölkerung leidet bereits unter der Überalterung und der niedrigsten Geburtenrate seit Jahrzehnten. Gleichzeitig ist der Immobilienmarkt in den großen Städten aufgeheizt, die Produktivität heimischer Unternehmen nach wie vor niedrig und die soziale Ungleichheit in den letzten Jahren explodiert.
Im Grunde steht China derzeit am selben Scheidepunkt wie Japan vor 25 Jahren: 1995 hatte Japans Bruttoinlandsprodukt 70 Prozent des US-amerikanischen erreicht, China hat diesen historischen Meilenstein 2020 als bislang zweites Land erreicht. Doch an die 100 Prozent kam bislang kein Staat heran.
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