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Schnee gegen Schlagstöcke

Trotz Angst vor Polizeigewalt gehen Zehntausende Menschen in Russland auf die Straße.
Sie fordern Freiheit für Alexei Nawalny – und das Ende des Systems Putin

Ungleiche Verhältnisse: Demonstration am 23. Januar in Moskau Foto: Maxim Shemetov/reuters

Aus Moskau Inna Hartwich

Stas Iwanow kennt diese Bilder, er hat sie oft auf seinem Tablet gesehen oder kommentiert. Bilder von Protestierenden, die von ihrer Regierung ein Leben nach Gesetz fordern; Bilder von Polizisten in Vollmontur, die auf friedlich herumstehende Menschen einhauen; Bilder von Verletzten, die sich vor Schmerz krümmen und „Freiheit“ rufen. Er kennt solche Bilder aus der Ukraine, aus Belarus, auch aus Chabarowsk in Russlands Fernem Osten. „Es ist das eine, solche Bilder auf seinem bequemen Sofa anzuschauen, das andere aber, sich plötzlich mittendrin zu befinden. Das Mittendrinsein hatte ich bislang immer vermieden, jetzt aber reicht es“, sagt der 28-Jährige auf dem Puschkinplatz in Moskau.

Hierher, mitten ins Zentrum der russischen Hauptstadt, hatte das Team um den inhaftierten russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny die Menschen zum Protest aufgerufen. Sie sollten zeigen, dass sie mit der Willkürjustiz des Staates nicht mehr leben wollen. Sie sollten Freiheit für Nawalny fordern.

Und die Menschen kommen, sie kommen in Massen. In Moskau, in Sankt Petersburg, in Juschno-Sachalinsk, in Jakutsk und Jekaterinburg und Barnaul. In knapp 100 Städten versammeln sich an diesem Samstag Zehntausende Unzufriedene auf den Straßen, in manchen herrschen Temperaturen von minus 40 Grad. Sie kommen, obwohl der Staat im Vorfeld eine starke Drohkulisse aufgebaut hatte, auf die Einschüchterungstaktik vertrauend. Sie kommen als Familie und mit Freunden, egal ob sie 60, 40 oder 20 Jahre alt sind. Allein in Moskau meldet die Agentur Reuters mehr als 40.000 Protestierende. Das Innenministerium sprach von 4.000 Teil­neh­me­r*in­nen in der Hauptstadt. „Es gingen ohnehin wenige Leute raus, für Putin stimmen viel mehr Leute“, wird Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am nächsten Tag sagen.

Video „Ein Palast für Putin“

Kurz nach der Verhaftung Nawalnys lanciert sein Team ein fast zweistündiges „Enthüllungsvideo“, das der Kremlkritiker noch im deutschen Exil produziert hat. Binnen 24 Stunden hatte es 24 Millionen Klicks, bis Redaktionsschluss sind es rund 80 Millionen.

Inhalt

Es geht um ein rund 18.000 Quadratmeter großes Anwesen am Schwarzen Meer, mit Helikopterlandeplatz, Jachthafen und unterirdischer Eishockeyhalle. Schätzwert: 1,2 Milliarden Dollar, die Putin mit Bestechungsgeldern bezahlt haben soll.Wahrheitsgehalt: unklar.

Wirtschaft in Russland

Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt derzeit circa 638 US-Dollar, weniger als in Bolivien oder Kenia. 10 Prozent der Russ*innen verfügen über 83 Prozent des Gesamtvermögens. 79 Prozent der Bevölkerung haben weniger als 10.000 Dollar. Es gibt 110 Milliar­däre in dem Land.

Quelle: Global Wealth Report, Credit Suisse, 2019

Stas Iwanow denkt kaum darüber nach, er will „einfach mal was Neues. Seit ich denken kann, haben wir Putin als Präsidenten. Muss das sein?“ Mit zwei Freunden hat er den Weg aus dem Moskauer Umland ins Zentrum unternommen, es ist ihre erste nicht genehmigte Demons­tration. „Irgendetwas in meinem Kopf hat klick gemacht, und ich dachte: Heute oder nie. Trotz großer Angst.“

Der Schlosser schaut sich um, der Platz ist von OMON-Spezialpolizisten umstellt. Einer ruft immer wieder: „Geehrte Bürgerinnen und Bürger, achten Sie auf die Hygienemaßnahmen, die wegen der epidemiologischen Situation getroffen wurden. Beachten Sie die erforderliche Distanz, ziehen Sie Masken und Handschuhe an.“ Andere „Omo­nowzy“ gehen in die Menge und greifen wahllos nach Menschen, führen sie ab, manche wehren sich, andere lassen es wortlos geschehen. Der Puschkinplatz ist unpassierbar, die Menschen stellen sich entlang der Bordsteine in den umliegenden Straßen auf, sie klatschen, sie winken, sie rufen: „Freiheit“ oder „Russland ohne Schlamm“ – und gehen damit auf den neuen Enthüllungsfilm Nawalnys ein.

Der Korruptionsbekämpfer hat in seinem fast zweistündigen Video „Putins Palast“ die mutmaßlichen Reichtümer des Präsidenten offengelegt und ihn damit erstmals direkt angegriffen. Auch ein Schlammbad kommt darin vor. Doch hier, auf den Straßen nur unweit des Kremls, ist der Film nur Nebensache. „Es weiß doch jeder, dass Putin und seine Entourage stehlen“, sagen die Menschen, sie schreien es auch hinaus: „Putin ist ein Dieb!“ Nawalnys Video ist ein gutes Stück Infotainment, das sich selbst diejenigen gern anschauen, die vom Straßenprotest nichts halten. Denen, die auf der Straße die einzige Möglichkeit der politischen Teilnahme sehen, weil keine echten Wahlen, keine echten Parteien und nicht einmal politische Debatten im Land stattfinden, geht es um weit mehr als um Nawalnys Enthüllungen und seine Haft nach einer mehr als fragwürdigen Gerichtsverhandlung.

„Nicht herzukommen macht noch mehr Angst, als hier zu sein“

Alexandra, 25 Jahre, in Moskau

„Ich stehe nicht wegen Nawalny hier, ich stehe für mich und meine Kinder hier, die eine Zukunft in Russland haben sollen, vor der man keine Angst haben muss“, sagt die 42-jährige Anna Jaryschewa. „Nawalny ist lediglich ein Katalysator für all unsere Unzufriedenheit.“ Die Menschen wünschen sich einen Rechtsstaat, sie wollen soziale Sicherheiten, sie wollen politische Institutionen, denen sie trauen können.

Nawalny selbst sitzt – wie auch seine engsten Mit­ar­bei­te­r*in­nen – in Haft und hat kaum Kontakt zur Außenwelt. Seine Frau Julia kommt zum Puschkinplatz – und wird zeitweise festgehalten. Alle, die direkt mit Nawalny in Verbindung gebracht werden, nimmt die Polizei zum Teil im Vorfeld fest. „Die Welt sieht diese Willkür, sie sieht, wie Putin durchdreht. Über kurz oder lang wird sich hier etwas ändern, zumal es die Jüngeren sind, die etwas bewegen wollen. Sie lassen sich nicht mit ein wenig besseren Renten kaufen“, meint Anna Jaryschewa.

Die Fah­re­r*in­nen in vorbeifahrenden Autos hupen, auch sie winken und machen das Victory-Zeichen. Die Menschen freuen sich übereinander – und wissen: Die Gefahr ist nah. „Aber nicht hierherzukommen, macht noch mehr Angst, als hier zu sein“, meint die 25-jährige Alexandra, die mit ihrer Mutter Julia bereits bei Dutzenden Protestaktionen dabei war. „Diese aber hat einen ernsteren Charakter.“

Foto: Navalny Life/dpa

Bereits eine Stunde später stürmen Dutzende Spezialpolizisten in die Menschenmenge, sie schlagen mit den Schlagstöcken auf sie ein, treten sie, drängen sie in die Me­trostationen ab. Die Protestierenden laufen in Richtung Kreml, in Richtung der Geheimdienstzentrale an der Lubjanka. Sie bewerfen die Polizisten mit Schnee. Manche ­Protestierende ziehen zur ­„Matrosenstille“ im Nordosten der Stadt. Hier, im berüchtigten Untersuchungs­gefängnis, muss Nawalny 30 Tage ­Arrest absitzen. Ob er danach freikommt, ist ungewiss. „Ljoscha (Kosename für Alexej), komm raus“, rufen sie in die Dunkelheit hinein. Die OMON-Polizisten schlagen viele von ihnen brutal zu Boden.

Am Ende des Tages sind in Russland nach Angaben der Organisation OWD-Info mehr als 3.200 Menschen festgenommen, allein in Moskau sollen es knapp 1.300 sein. Das Ermittlerkomitee will wegen „Gewalt gegen Staatsbedienstete“ ermitteln. Und die Nawalny-Anhänger*innen wollen am nächsten Wochenende wieder auf die Straße gehen.