Der Ethikrat: Vom Wesen der Freundschaft

Sollte ein Freund einem die Blöße ersparen, um Hilfe bitten zu müssen? Der Ethikrat ist auch in dieser Frage von einschüchternder Vorbildlichkeit.

Krapfen auf einem Backblech

Der Ethikrat stand vor einer Bude, deren Fettgebackenes zurecht einen sehr guten Ruf genießt Foto: Jens Ressing/ dpa

Kürzlich stand ich in der Schlange vor einer Bude, deren Fettgebackenes zurecht einen guten Ruf genießt, als ich hinter mir den Ethikratsvorsitzenden entdeckte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren, die mich gelegentlich aufsuchen, um mir Hinweise in Sachen praktischer Ethik zu geben. Ihr Erscheinen war schon immer unwägbar gewesen, aber jetzt, zu Pandemiezeiten, traf ich sie kaum noch.

„Sind Sie allein?“, fragte ich den Vorsitzenden, denn ich sah seine Kollegen nicht. „Nein, wir sind vollständig“, sagte der Vorsitzende, „wir feiern heute die Genesung eines meiner Kollegen.“ Er wies auf eine Bank, auf der die beiden anderen Ratsmitglieder saßen. Eines von ihnen war weitgehend unter Mütze und Schal verborgen und stützte sich auf einen Spazierstock mit Papageienkopf, den ich bislang beim Ratsvorsitzenden gesehen hatte.

Mein bisheriger Kontakt mit dem Ethikrat hatte eine gewisse Knorrigkeit und ich war unsicher, ob Privates angebracht war. Aber dann ging ich doch hinüber zur Bank. „Alles Gute für Ihre Genesung“, sagte ich zu dem eingehüllten Ratsmitglied. „Danke“, murmelte es. Seine Hand zitterte und mit ihr zitterte der Papageienstock. Der Ratsvorsitzende bot reihum die Krapfen an und weil mein Hunger größer war als meine Furcht zu stören, nahm ich mir einen.

„Womit beschäftigen Sie sich gerade?“, fragte der Ratsvorsitzende. Mir schien, dass die wesentlichen Bestandteile meiner Existenz Müdigkeit, Bankrott und offene Sinnfragen waren, aber das war nichts Neues. Also sagte ich: „Ich las neulich einen interessanten Text über Freundschaft.“ Dem rekonvaleszenten Ratsmitglied fiel der Krapfen aus der Hand auf den Boden und es murmelte etwas, das wie ein Fluch klang. „Diese Krapfen sind nicht sehr griffig“, sagte der Vorsitzende, während sein Krapfen plötzlich ebenfalls fiel.

Eine Frage der Augenhöhe

„Es ist ein arabischer Text aus dem elften Jahrhundert“, fuhr ich fort, „und der Schreiber sagt, dass der Freund die Wünsche seines Freundes erkennen soll, bevor der sie äußert. Dass Freundschaft auch darin besteht, dem anderen zu ersparen, bitten zu müssen.“ In der Regel stieß das, was ich dem Rat erzählte, auf ein mäßiges Echo, deshalb stockte ich an dieser Stelle. „Wie stehen Sie dazu?“, fragte der Ratsvorsitzende ungewohnt milde und ließ noch einmal die Tüte mit den Krapfen umhergehen.

„Ich finde es unmittelbar einleuchtend“, sagte ich. „Etwa, wenn man einer Freundin erzählt, dass Lastschriften zurückgehen und dann nicht sagen muss: ‚Könntest du mir etwas leihen?‘. Es lässt einem die Augenhöhe. Aber viele Leute, denen ich davon erzählte, finden, es sei zu viel verlangt, die Bedürfnisse des Freundes oder der Freundin ungefragt zu erkennen“.

In dem Text des persischen Philosophen wird von einem Freund erzählt, der immer vor dem Haus des anderen die Hausleute fragt, ob Salz oder Öl fehlt. Und wenn etwas gebraucht wird, bringt er es, ohne dass sein Freund davon erfährt. Es hätte nahe gelegen, dass der Ethikrat mich fragte, wie viele meiner spärlichen guten Taten im Geheimen geschahen. „Keine, wenn ich es irgendwie vermeiden kann“, hätte ich antworten müssen. Aber stattdessen sagte der Vorsitzende: „Ein Ideal nicht zu erreichen, bedeutet nicht notwendigerweise, dass es wertlos ist.“

„Und später heißt es doch, dass ein Freund deine Gesellschaft sucht, ohne dass er einen Zweck damit verfolgt“, fuhr ich ungefragt fort. „Ist es nicht aufmunternd zu denken, dass es mehr geben kann als Arterhalt in der Familie oder Interessengemeinschaften mit direkter Dividendenauszahlung?“ „Die Ideen von Abu al-Ghazali bedeuten uns viel“, sagte der Vorsitzende, band sich eine FFP2-Maske um und reichte dem zittrigen Mitglied seinen Arm. Sie gingen davon, so langsam, als habe man sie auf Zeitlupe gestellt.

Ich sah ihnen mit leisem Ungenügen hinterher. Wenn der Rat keine Forderungen mehr an mich stellte, würde ich für immer die ethische Baustelle bleiben, die ich war. Zu Hause las ich den grämlichen Brief eines alten Freundes, der mir die Freundschaft aufkündigte, weil ich mich zu wenig darum kümmerte. Wo er recht hat, hat er recht, dachte ich, und warf den Brief ins Altpapier.

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ist taz-Redakteurin in Hamburg und schreibt bevorzugt über ökonomisch wertlose Beschäftigungen. Ihr Buch „Warten. Erkundungen eines unge­liebten Zustands“ erschien 2014, „Schlafen. 100 Seiten“ 2019.

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