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Auf der Suche nach der allein selig machenden Cloud

Die Coronakrise hat den Lernplattformen einen Schub gegeben. Getrieben wird die Entwicklung von engagierten Schulen und kleinen Anbietern wie dem in Braunschweig ansässigen Unternehmen Iserv. Doch die Bildungspolitiker wünschen sich einheitliche Lösungen

Wenigstens die Lehrerin sitzt noch im Klassenzimmer: Distanzunterricht in Brandenburg Foto: Kay Nietfeld/dpa

Von Christian Füller

Der digitale Fortschritt im Norden der Bildungsrepublik hat eine Kennzahl: 925.000. So viele Schüler:innen und Lehrkräfte nahmen am Montag nach den erneuten Schulschließungen an Videokonferenzen eines bestimmten Lernportals teil. Es gab vereinzelte Ausfälle, aber das System insgesamt hielt stand. Im März waren landauf, landab noch die Videosysteme der ganzen Republik kollabiert, selbst der Eine-Billion-Dollar-Gigant ­Microsoft hatte Probleme. Bis gestern waren die Mebis-Server des Pisa-Primus Bayern zwei Tage lang blockiert. Im Norden aber ist das digitale Klassenzimmer sendebereit.“

Gehostet wurde diese riesige, spontane Videokonferenz vom High-Tech-Mittelständler „Iserv“ aus Braunschweig. Das aus einer Schüler-Lehrer-Initiative hervorgegangene System dürfte es streng genommen gar nicht mehr geben. Jedenfalls dann nicht, wenn man nach den Plänen der Kultusminister geht. Alle Bundesländer im Norden der Republik haben sich ein Lernmanagementsystem (LMS) als Landesangebot angeschafft. Ziel war eine einheitliche Ausstattung. Das soll in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein „Itslearning“ sein. In Hamburg das „LMS Lernen Hamburg“ und in Niedersachsen die einst als nationale „Schulcloud“ konzipierte Software des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam.

Trotz dieser multiplen Cloud-Offensiven aber hat Iserv, das von keinem Kultusminister offiziell gefördert wird, im Norden die Nase vorn – und zwar mit großem Abstand. Das Software-Haus mit gut 100 Beschäftigten hat seine Anschlusszahlen sogar verdoppeln können: Aus den 2.300 angeschlossenen Schulen sind inzwischen 4.400 geworden. Begonnen haben die beiden Gründer Jörg Ludwig und Benjamin Heindl mit dem Programmieren am Hoffmann-von-Fallersleben-Gymnasium in Braunschweig. Sie bauten sich eine eigene digitale Plattform für ihre Schule. Jetzt sind sie Marktführer im Norden der Republik.

Iserv steht nicht nur für eine Unternehmer-Story. Das Unternehmen ist ein Symbol für die dilettantische digitale Bildungspolitik der Schulminister – und die Intelligenz lokaler Lösungen, die engagierte Schulleiter, Schüler und Start-ups kreiieren. Die Kultusminister hingegen fahren einen schwer nachvollziehbaren Schlingerkurs. Niedersachsens Grant Hendrik Tonne (SPD) etwa gab zwischenzeitlich sogar die zu Facebook gehörende Datenkrake Whatsapp zur Nutzung für Schüler frei – und löste damit Entsetzen nicht nur beim Datenschutz aus. Schleswig-Holstein wirbt für sein System ernsthaft mit dem Logo „sh.itslearning“.

Gute Lernmanagementsysteme ermöglichen ein digitales Klassenzimmer. Das bedeutet, die Lehrkräfte können Schüler störungsfrei erreichen – auch ohne E-Mail oder Stapel von Arbeitsblättern, die händisch übergeben werden. Innerhalb eines ausgebauten Lernportals können Lehrer:innen einfach kommunizieren: Sie sind in der Lage, via Messenger oder Videochat Feedback zu Schülerarbeiten zu geben. Gleichzeitig tauschen Lehrende und Lernende Dokumente aus. Wenn das System gut ist, können sie sich auf kollaborativen Plattformen in Echtzeit gegenseitig beim ­Schreiben zuschauen. Ein Lernwolke, die das alles stolperfrei beherrscht, gibt’s bisher nicht. Alle Lernportale und Schulclouds sind nur Näherungslösungen.

Schneller als Tiktok

Dennoch ist die Bildungsrepublik, was die Lernmanagementsysteme betrifft, nach einem Sommer Corona nicht mehr wiederzuerkennen. Im März dümpelte das Land noch auf Platz 65 eines OECD-Rankings. Im Juli gaben dann bereits 55 Prozent der Jugendlichen an, dass sie „in der Schule in einer Cloud arbeiten“ – ein Zuwachs von 150 Prozent. So viel Plus schafft in Deutschland nicht mal die weltweit am schnellsten wachsende Kurzvideo-App Tiktok.

Seit Juli haben die Bundesländer nun ihre Schulen weiter fleißig an die diversen Clouds angeschlossen – auch im Norden. Beispiel Bremen: Bei knapp 70.000 Schülern verzeichnete die Hansestadt in der Pandemie teilweise täglich 200.000 Zugriffe auf Itslearning. Selbst während der letzten Präsenzphase im November gab es zum Teil 140.000 Zugriffe. Mit anderen Worten: Bremens Schüler nutzen Itslearning inzwischen wie Schulbücher – selbstverständlich und dauernd.

Beispiel Schleswig-Holstein: Von den rund 1.300 Schulen haben etwa 1.000 Zugang zu dem – neu angeschafften – Itslearning, dem Kommunikationssystem „SchulCommSy“ und Iserv – Spitzenreiter bleibt auch hier Iserv mit 332 Schulen. Daneben laufen noch andere Portale wie Moodle, Webweaver, Ilias und Logodidact. Bremen und Schleswig-Holstein dürften mit ihrem Zugang zu Lernmanagementsystemen inzwischen an Dänemark herankommen, das auf Platz drei im Pisa-Ranking liegt. Für Platz 4 bräuchte es 80 Prozent Schülerzugriff aufs digitale Klassenzimmer.

Niedersachsen schafft sogar das Kunststück, mehr Anschlüsse an digitale Lernsysteme zu verzeichnen, als es Schulen gibt. 2.200 Schulen sind bei Iserv, 1.200 bei der vom Bund geförderten Potsdamer Schul­cloud – aber es gibt nur 3.000 Schulen. Das Land wäre also mit einer Abdeckung von über 110 Prozent unschlagbarer Sieger im Cloud-Ranking der Pisastudie.

Tatsächlich sagt diese Zahl aber vor allem eins: Der Traum von der einen, allein seligmachenden Cloud-Variante scheint nicht zu verwirklichen zu sein. Die Frage heißt nicht: Welche Cloud sticht die andere aus? Sondern: Welche kombiniert man am besten?

Das berichten auch Lehrer. Die denken gar nicht dran, sich nur auf ein Portal zu fokussieren, sie kombinieren – weil jedes Lernmanagementsystem seine Vorzüge hat. Hauke ­Poelert vom Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen etwa sagt: „Wir nutzen aktuell Iserv. Gleichzeitig evaluieren wir schon länger weitere LMS, um die Unterrichtsentwicklung voran zu bringen. Itslearning macht bisher den besten Eindruck.“ Andreas Kasche von der Oberschule Ronzelenstraße in Bremen berichtet von den Vorteilen von Itslearning – das allerdings mit der Schreibfunktion von Microsoft Office noch mehr könne: „Ich gebe per Itslearning den Schüler:innen zum Beispiel ein Schreibdokument. Itslearning macht für alle Schüler:innen eine bearbeitbare Kopie, die sie abspeichern können. Ich als Lehrer kann sie mir dann anschauen – und Kommentare in das Dokument schreiben.“

Das ist die Debatte unter Lehrkräften. Eine Ebene drüber, in der Politik, findet eine ganz andere Diskussion statt. Im Kieler Bildungsministerium etwa teilt ein Sprecher mit, Ziel sei es, perspektivisch nur ein einziges Lernmanagementsystem fürs ganze Bundesland zu haben. Die Staatsministerin fürs Digitale im Kanzleramt, Dorothee Bär (CSU), ruft sogar den Himmel an. Die Länder hätten sich „an unseren Kindern versündigt“ – weil es keine einheitliche Lernplattform für ganz Deutschland gebe. Bär hat allerdings noch nicht erklärt, was sie mit den Lernwolken wie Iserv machen will, die ihr nicht passen: fusionieren, verbieten, Unternehmen wie Iserv enteignen?

Zickzackkurs der Landesminister

Was die Schulen stört, ist der Zickzackkurs der Landesminister. „Hybrides Lernen wurde zunächst hoch gelobt. An vielen Schulen hat es auch viel besser geklappt als erwartet“, sagt Silke Müller, Schulleiterin der Waldschule in Hatten bei Oldenburg. „Aber dann zählte das alles nicht mehr. Das ist für uns Lehrer nur schwer nachvollziehbar.“

Müller gerät regelrecht in Rage, wenn sie den Sommer Revue passieren lässt. Erst Schließung der Schulen und massive Investitionen. Dann Heraufsetzen des Grenzwertes für Distanzlernen, später lange Zeit das De-facto-Verbot von Fernunterricht. Nun, wie im März binnen drei Tagen, eine erneute Wende um 180 Grad. „Das untergräbt unseren Erziehungsauftrag“, sagt Müller. „Wozu hat man zum Beispiel im Sommer 500 Millionen Euro Soforthilfe für Endgeräte von Schülern investiert – wenn man dann vom Distanzlernen nichts mehr wissen wollte?“

Die Schulleiterin, deren Schule bereits seit 2009 mit digitalem Lernen begonnen hat, nennt das „Geringschätzung und Herabwürdigung vieler Monate Arbeit von Lehrer:innen“. An der Waldschule in Hatten läuft übrigens Iserv.

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