Widerstand im Namen des Islam

Junge muslimische Aktivist:innen aus NRW engagieren sich gegen Islamisten. Sie stellen IS-Videos nach, halten den Radikalen den Spiegel vor – und werden von mehreren Seiten attackiert. Eine Fotoarbeit

Hassen Geuad (r.), Ali Hassoun (l.) und Nour Geuad besprechen, wie eine nachgestellte Erschießungsszene am besten wirkt

Aus Essen, Düsseldorf und Berlin Jan Rübel(Text)
und Frank Schultze(Fotos)

Schwarz gekleidete Männer treiben zwei andere in orangefarbenen Overalls vor sich her. „Lauf weiter!“, ruft einer, einen Krummsäbel in der einen Hand, die andere drückt er fest in den Nacken seines Opfers. „Runter mit dem Kopf!“ Passanten schauen ungläubig, entsetzt zu. Doch das Schwert und auch die Pistole im Nacken des Gebeugten – sie sind aus Plastik.

Es ist Oktober 2014, und das Video „IS-Hinrichtung in Essen“ zeigt den ersten Auftritt einer Gruppe junger Aktivist:innen, „12thMemoRise“ nennen sie sich. Das Ziel ihrer Fake-Enthauptung: aufrütteln, zeigen, wie hässlich das sein kann, was manche im Namen ihrer Religion tun. Wie es aussähe, wenn eine radikalislamische Terrortruppe wie der „Islamische Staat“ (IS) im Ruhrgebiet das Sagen hätte.

Einer der Gründer, der heute 30-jährige Hassan Geuad, erinnert sich: „Wir saßen an einem Abend stinksauer zusammen.“ Der IS hatte bereits weite Teile des Irak überrannt. Geuad, sein Bruder und Freunde waren entsetzt über die Bilder, die sie aus dem Land erreichten, das sie im Jahr 2000 in Richtung Deutschland verlassen hatten.

„Viele Menschen kritisieren lieber, als auch die positiven Veränderungen zu sehen“

Hassan Geuad

Die auch in Deutschland immer selbstbewusster auftretenden Salafist:innen ärgerten und beunruhigten sie. „Wir wollten etwas unternehmen und vor ihnen warnen“, sagt Geuad. „Die IS-Propagandafilme im Netz inspirierten uns. Wir entschieden, den Feind mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.“

Seither inszeniert die Gruppe öffentliche Auftritte, spielt Attentate nach oder imitiert einen Sklavenmarkt vor Galeria Kaufhof. Weil all diese Dinge auch in der Realität passierten, dort, wo der IS zwischenzeitlich herrschte. „Mit unseren Videos wollen wir genau die Menschen erreichen, die nach Filmen des IS suchen. Dann finden sie möglicherweise uns – und kriegen eine Version präsentiert, die sie nicht erwartet haben“, sagt Geuad.

Das kommt längst nicht bei allen gut an. Geuad und seine Mitstreiter:innen erhalten Drohungen, hauptsächlich von radikalen Muslimen, aber auch von nichtmuslimischen Rechten.

12thMemoRise repräsentiert die Zahl 12: die 12 Apostel, die 12 Stämme Israels und die 12 Imame des schiitischen Islam – also auch den überkonfessionellen Charakter der Gruppe und das Verbindende zwischen den Weltreligionen.

Die Aktivist:innen thematisieren die Ablehnung „westlicher“ Kultur und Lebensart durch Muslime

Neun Aktivst:innen bilden den festen Kern, zwei von ihnen sind Frauen. Die meisten der Mitglieder sind in Deutschland geboren, haben irakische, libanesische und türkische Wurzeln. Ein zum Islam konvertierter Deutscher macht mit und ein Thailänder. Schiiten sind innerhalb der Gruppe in der Mehrheit, doch auch Sunniten, Aleviten und Christen sind dabei.

Frank Schultze, Fotograf der Reportage-Agentur Zeitenspiegel, hat die Gruppe von 2017 bis 2019 knapp drei Jahre lang begleitet. „Sie legen den Finger in eine Wunde“, sagt er, „und sie sind selbst sehr religiös, kennen sich gut in Angelegenheiten der Religion und des Glaubens aus.“ Beeindruckt habe ihn, wie innerhalb der Gruppe Freundschaften entstanden sind, wie sich die Aktivst:innen gegenseitig geholfen haben, als sie plötzlich von Extremisten bedroht und aus der eigenen Religionsgemeinschaft angefeindet wurden. Auch mit den Familien gab es Konflikte.

Muslime, die in Deutschland einen Raum für unterschiedliche muslimische Identitäten schaffen wollen, bewegen sich in einem Spannungsfeld. „Die Deutschen erwarten sehr viel von den Muslimen“, sagt Geuad, der als Marketinganalyst in einem Beratungsunternehmen arbeitet. Als sie mit den Videos begannen, hätte sie neben den Islamisten auch die wachsende Islamfeindlichkeit in Deutschland verletzt, etwa dass ihre Kopftuch tragende Mutter belästigt wurde. „Viele Menschen kritisieren lieber, als auch die positiven Veränderungen zu sehen.“ Eine Beobachtung, die Geuad vor allem in den vergangenen Jahren gemacht hat.

Planungs­treffen der Gruppe in ihrem Gebets­raum in Düsseldorf

Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Jahr 2006 von der Welt am Sonntag gefragt wurde: „Haben wir zu wenig beachtet, dass der Islam ein Stück Deutschland ist?“, antwortete er: „Ja, aber dieses Stück ist auch schwieriger zu erkennen.“ Kaum jemand nahm davon Notiz, im selben Jahr gründete Schäuble die Deutsche Islamkonferenz. Und doch sorgte eine vergleichbare Äußerung nur vier Jahre später für Entrüstung, als Bundespräsident Christian Wulff in einer Rede sagte: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Seitdem wird diese Frage immer wieder kontrovers diskutiert. Etwa jeder Zweite in Deutschland empfand im Jahr 2019 den Islam einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zufolge als Bedrohung, im Osten waren es 57, im Westen 50 Prozent.

Tatsächlich ist die Geschichte des Islam in Deutschland mit all seinen Spielformen und Gesichtern wechselhaft. Vor 200 Jahren noch dominierten romantische Orientvorstellungen, mehrere Bauwerke in Deutschland wie etwa das Dampfmaschinenhaus für Sanssouci in Potsdam wurden im Stil einer Moschee erbaut. Der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. reiste noch begeistert in den Nahen Osten.

Als im Zuge des Wiederaufbaus in den 1960er Jahren die ersten sogenannten Gastarbeiter muslimischen Glaubens nach Deutschland kamen, wollte man von ihrem Leben, ihren Gedanken und Wünschen dagegen nicht viel wissen. Als sich abzeichnete, dass viele von ihnen bleiben würden und in den 70ern und 80ern Muslime aus Bürgerkriegsländern hinzukamen, entstand allmählich eine religiöse Infrastruktur, erste Moscheevereine wurden gegründet, ab den 1990ern repräsentative Moscheen errichtet.

„Die sind schon krass drauf, das war letztlich eine Eingangstür für den IS“

Hassan Geuad über die Salafisten der „Lies!“-Aktion

Spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 etablierte sich ein neues Interesse am Islam, gleichzeitig wuchs die Furcht – und die Diskriminierung von Menschen muslimischen Glaubens. Seit den 2000ern nahmen Brandanschläge auf Moscheen zu, weltweit und auch in Deutschland starben Muslime durch Attentate von Rechtsextremisten.

Seit 2014 gehen vor allem im Osten Deutschlands „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße, oft unwissend, dass das sogenannte Abendland vom Orient durch dessen Bau- und Handwerkskünste, dessen Wissenschaften, etwa der Mathematik, Medizin, Philosophie und Waffenkunde, tiefgreifend beeinflusst wurde. Und obwohl der muslimische Bevölkerungsanteil gerade dort marginal ist.

Das schiitische Aschura-Ritual in einem schiitischen Veranstaltungszentrum in Essen 2017. Auch Mitglieder von „12thMemoRise“ nahmen teil

In einer Umfrage von 2016 schätzten die befragten Deutschen den Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung auf 21 Prozent. Tatsächlich waren es 5 Prozent.

Mitglieder und Anhänger islamistischer Gruppen verüben seit Jahren immer öfter auch Terroranschläge auf europäischem Boden, in London, Madrid, Paris, Berlin. Erst Mitte Oktober wurde der französische Lehrer Samuel Paty in der Nähe von Paris enthauptet. Zwei Wochen später folgte ein tödlicher Angriff in einer Kirche in Nizza; Anfang November ein terroristischer Amoklauf in Wien, vier Menschen wurden getötet.

Die Täter sympathisierten mit dem IS, auch wenn die Gruppe in Syrien und dem Irak seit Frühjahr 2019 als besiegt gilt. Verschwunden ist sie nicht. Ein Arm des IS verübt vermehrt Anschläge in der afghanischen Hauptstadt Kabul.

Aschura ist eine 10-tägige Trauer­zeremonie

Das Engagement von 12thMemoRise entstand nicht ohne Grund, nicht ohne Kontext. Die Aktivist:innen thematisieren die Ablehnung „westlicher“ Kultur und Lebensart durch radikale Muslime.

Hassan Geuad erinnert sich daran, wie ultrakonservative junge Muslime Koranexemplare in der Essener Innenstadt verteilten und einen Infostand aufgebaut hatten. „Die sind schon krass drauf, das war letztlich eine Eingangstür für den IS.“ Tatsächlich hatten laut eines Berichts des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2016 28 Prozent der 615 von Deutschland nach Syrien ausgereisten IS-Kämpfer einen nachweislichen Kontakt mit dem „Lies!“-Projekt.

Die Mitglieder von 12thMemoRise simulieren eine Entführung durch den IS

Dass 12thMemoRise der Coup gelang, in unmittelbarer Nähe einen „IS-Infostand“ aufzustellen und Unterschriften gegen die „Lies!“-Aktion zu sammeln, freut ihn noch heute. Weniger freut ihn, dass die Gruppe erst nach sechs Monaten einen Termin beim Oberbürgermeister erhielt, um ihm die Unterschriften zu überreichen. „Bürokratie halt.“

Die mittlerweile verbotene „Lies!“-Aktion war ein Baustein salafistischer Bewegung in Deutschland. Salafist:innen streben eine geistige Rückbesinnung auf jene an, die im siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ihrer Meinung nach das „Richtige“ taten und damit eine Richtschnur auch für heutiges Verhalten vorgaben. Zwar machen sie nur einen sehr kleinen Teil muslimischen Lebens in Deutschland aus, dafür einen dynamischen, wachsenden und jungen.

Auch Frauen machen bei der Gruppe mit, zwei von ihnen gehören zum festen Kern

Die Aktivist:innen von 12thMemoRise stören sich daran, dass die große Mehrheit der Muslim:innen weniger selbstbewusst und aktiv auftritt und damit die Gruppe der Islamisten größer erscheinen lasse, als sie ist.

„Wir sollten lauter werden und uns stärker von den Radikalen abgrenzen“, sagt Geuad. Zurzeit sitzt er mit seinem Bruder an einem Buch über 12thMemoRise, im kommenden März soll es erscheinen.

Und was macht die Gruppe jetzt in Zeiten der Pandemie? „Corona machte uns einen Strich durch die Rechnung. Demos oder andere Straßenevents sind eben in einer Pandemie schwer zu realisieren. Wir drehen jetzt einfach mehr Videos.“

Jan Rübel, 50, ist Reporter bei Zeitenspiegel und studierte Islamwissenschaft und Nahostgeschichte.

Frank Schultze, 61, ist Bildjournalist bei Zeitenspiegel und fotografiert weltweit in Konfliktregionen. Das Langzeitprojekt „12thMemoRise“ lief mehr als drei Jahre und wurde durch ein VG-Bild-Stipendium unterstützt.