Der Forschungsstand ist keine Meinung

Die Pandemie als Kommunikationsproblem: Ein wenig Mythenglaube müssen wir meist tolerieren. Doch Maskentragen ist keine Privatsache. Das macht Corona auch im Familien- und Freundeskreis zum Skandalon

Coronaverharmloser am 18. 11. in Berlin: Zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstand und Ideologie erkennen manche keinen Unterschied Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Ulrike Winkelmann

Völlig unerfahren sind wir dieses Jahr nicht nur in die Pandemie, sondern auch in die Pandemiekommunikation hineingeschlittert. Und je länger das öffentliche, insbesondere aber das private Coronagespräch dauerte, desto deutlicher wurde die Notwendigkeit zu unterscheiden: zwischen denen, die mit Argumenten ohnehin nicht zu erreichen sind – und jenen, mit denen der Austausch noch fruchtbar ist.

Der Punkt für diese Unterscheidung liegt irgendwo auf der Skala von „Corona gibt’s gar nicht“ bis „Die Maßnahmen der Bundesregierung taugen nicht“. Bei „Corona gibt’s gar nicht“ mag schon seit dem Frühjahr niemand mehr ansetzen. Über „Die Maßnahmen der Bundesregierung taugen nicht“ lässt sich zweifellos diskutieren. Die Sache ist allerdings erstens zu ernst und zweitens zu naturwissenschaftlich, um hier nach ideologischen Positionen zu suchen – nach dem Motto: Was die sonst so sagen, gefällt mir auch, da schließ ich mich mal an.

Corona ist deshalb solch ein Kommunikationsproblem, weil es hier eben gerade nicht um ideologische, also im Kern moralische Fragen geht. Mit denen hat die demokratische Öffentlichkeit umzugehen gelernt, darüber streiten wir gerade dann besonders gern, wenn uns Positionen als „alternativlos“ vorgestellt werden. Pandemiebekämpfung aber fordert erst einmal Einsicht in die Hoheit der Fakten, der Wissenschaft.

Und es stellt sich heraus, dass sich daraus schon eine ganze Menge Handlungserfordernisse ableiten. Insofern stimmt die Beschwerde darüber, dass die Wissenschaft neuerdings Politik mache: Wer akzeptiert, wie gefährlich das Virus ist, muss seine Politik daran ausrichten. Als Handlungsspielraum bleibt die Abwägung, wem am besten wie zu helfen sei.

Verantwortlicher Redakteur: Malte Kreutzfeldt |Weitere Redakteur:innen und Autor:innen: Gereon Asmuth, Ingo Arzt, Jan Feddersen, Manuela Heim, Ulrike Herrmann, Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk, Ulrike Winkelmann |Fotos: Isabel Lott |Layout und Technik: Nadine Fischer V.i.S.d.P.: Ulrike Winkelmann, taz-Chefredakteurin

Ansonsten ist ein Stand der Forschung eben alternativlos, denn es ist der international anerkannte, nach hohen Standards ermittelte Pegel einer Erkenntnis. Die Falsifikation, der mögliche Irrtum also, ist darin schon eingepreist – wenn morgen die gut gemachte Studie kommt, die alles über den Haufen wirft: okay. Aber heute gehen wir von diesem Stand aus.

Allzu günstige Polemik von der Art „Glaube keiner Statistik, die …“ oder „Zwei Wissenschaftler, drei Meinungen“ verbietet sich im Fall Corona. Die demokratische Öffentlichkeit hat in diesem Jahr viel darüber gelernt, wie transparent die wissenschaftliche Öffentlichkeit ist. Man kann hier live beobachten, wie die virologische und epidemiologische Gemeinde sich kurzschließt, in einem rasenden, von Veröffentlichungs-Eitelkeiten ausnahmsweise kaum getrübten Austausch über das Virus.

Dahinter zurück fallen aber ebenjene, die entweder generell keinen Wert auf Erkenntnis legen – oder die zwischen naturwissenschaftlichem Erkenntnisstand und Ideologie keinen Unterschied erkennen. Was jahrzehntelang gar kein Problem war – dass ein Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung durchaus quasi-religiöse Einsprengsel einschloss –, wird in der Pandemiediskussion zum Skandalon, zu dem Faktor, der Freundschaften beendet, Familien spaltet.

Bisher galt: Dass der Vater, nüchterner Finanzbeamter, an Horoskope glaubt – sei’s drum. Dass die Freundin, langzeitstudierte Historikerin, kein homöopathisches Kügelchen auslässt – bitte schön. Vorbei. „Wie hast du’s mit der Wissenschaft?“, das ist die Frage der Pandemie, sie ist unausweichlich, wenn man über Corona, also unser aller Alltag reden möchte. Irgendwann einmal war der Alltag willkommener Ablenkungsgegenstand, wenn die Rede über Politik oder Religion plötzlich anstrengend wurde. Auch das – vorbei.

Wenn morgen eine Studie alles über den Haufen wirft: okay. Aber heute gehen wir von diesem Stand aus

Es heißt, in den USA hätten viele Leute eine regelrechte Meisterschaft darin entwickelt, selbst an langen Abenden nicht über Politik zu reden, um den sonst unausweichlichen Streit über Donald Trump zu vermeiden. Vielleicht muss man das in der Pandemie auch lernen: Dass in der vermeintlich vollends aufgeklärten Welt ein Gutteil Mythenglaube an Stellen sprießt, wo man ihn nicht erwartet – und wo man ihn nicht mit einem mild-zivilisierten „Nun, Religion ist Privatsache“ wegfächeln kann.

Gleichzeitig müssen diejenigen, die den Forschungsstand für eine Meinung halten, mindestens das akzeptieren: Sie werden weiterhin deutlichen Widerspruch ernten.

Und sie dürfen niemanden gefährden. Diskutieren – ja, unbedingt. Aber nur mit Maske.