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Ein Meter fünfzig!

Schon vor dem zweiten Lockdown hat Corona die Tanztheater umgetrieben. Gleich mehrere Produktionen verhandeln Fragen nach verdrängter und regulierter Körperlichkeit

Von Jens Fischer

Dem Gesellschaftskörper wurde ein kollektiver Rückzug verordnet: Denn Social Distancing meint vor allem Physical Distancing. Offiziell begrüßt werden massenhafte Zusammenkünfte von Individualkörpern nur noch an Orten des schlichten Kapitalismus, etwa Shopping-Centern, Möbelkaufhäusern und Einkaufpassagen. Dort darf der Menschen sich dumm und dämlich konsumieren, auch um die Degradierung seiner Physis zu verdrängen. Denn als Angriffsfläche, Träger und Vermittler von Infektionen ist sie doch das zentrale Objekt der Coronaverordnungen. Im Lockdown gehört die Marginalisierung des Körperlichen zum Alltag: Vom geschlossenen Sportverein über Schwimmbäder bis zum Tanzkurs. Selbst den Meistern virtuoser Körperkommunikation auf der Bühne zuschauen ist verboten.

Doch bis zur neuerlichen Theaterschließung waren einige Ensembles im Norden Deutschlands höchst produktiv darin, die veränderte Beziehung der Leiber untereinander und die Beziehung zum eigenen Leib zu untersuchen, schon aus Eigeninteresse, ist er für sie doch Kapital des ökonomischen und Instrument des künstlerischen Daseins.

Mit den Einflüssen online vermittelter Körperbilder wollten sich Núria Guiu Sagarra und die Unusual-Symptoms-Compagnie am Theater Bremen auseinandersetzen. Das war schon lange geplant. Unter Coronabedingungen wurde das gesellschaftliche Thema auch zu einem des Probenalltags – dem Training vor dem Laptop, angeleitet von Apps und Videos, sowie der Zoom-Konferenzplattform als Medium des Austauschs. Das Ergebnis der Arbeit ist „Futuralgia“ betitelt. Wie ihren Arbeitstag beginnen die Tanzenden die Premiere mit Stretching. Sich elastisch machen und Muskeln stählen nach nicht sichtbaren Instruktionen aus dem Internet. Aus Ver- wird An- und schließlich Entspannung.

Zunehmend reizvoll wird der sportgymnastische Kanon immer eigenwilliger ausformuliert. Auch als Auseinandersetzung mit Geschlechterrollenmustern. Es herrscht dabei ein flottes Kommen und Gehen auf dem Tanzgeviert. Die Ensemble­mitglieder träumen sich in ihren Trainingsbewegungen zueinander, schauen voneinander ab, spiegeln einander, finden gar für ein paar Schrittfolgen zusammen – und verfallen wieder in eigene Moves.

Oder sie zitieren Box-, Jogging-, Aerobic-Übungen. Gegen das vorgefertigte Vokabular flackern Widerstände auf und verlöschen wieder. Selbstpräsentation wie in Tik-Tok-Videos oder die Selbstversunkenheit einer Silent-Disco-Nacht wird probiert. Jeder bleibt für sich. Schier platzend vor Sehnsucht nach Nähe, Berührung und Interaktion. So löst „Futuralgia“ das Versprechen des Titels ein, einen nostalgischen Blick in die Zukunft zu motivieren, indem Hoffnung genährt wird auf das postpandemische Comeback direkt erlebbarer Körpersprache. Beeindruckend.

Was man könnte, wenn man nur dürfte

Das Staatstheater Oldenburg reagierte mit einer 19-Nummern-Revue auf nur noch vereinzelt mögliche Proben und die Abstandsgebote auf der Bühne. Vor allem Soli kamen unter dem Titel „1,5m“ zur Premiere. Zu erleben sind Ausschnitte aus den letztjährigen Produktionen, Bravourstücke aus klassischen Tutu-Balletten und frische Kreationen einzelner Ensemblemitglieder: Eine Art Best-of-Programm zum Teasern, was die Compagnie so alles kann.

Das Hildesheimer Theater für Niedersachsen versucht einen anderen Ansatz. Dreimal steht eine „Räuber“-Premiere auf dem Spielplan. Während das Schauspiel allein durch die Besetzung des Bösewichts Franz, Inbegriff des selbstherrlichen Intellekts, mit einer Schauspielerin die Gewichte des Schiller’schen Männertheaters neu austariert, nimmt die Oper mit Saverio Mercadantes Vertonung die Coronaverordnung als ästhetisches Prinzip, das inhaltlich interpretiert wird: Der Abstand und die Statik der Figuren auf der Bühne soll ihre Einsamkeit und Verlorenheit betonen. In der zeitgenössischen, von Corona kaum eingeschränkt wirkenden Tanztheaterversion Marguerite Donlons kommt sich das Tanzquintett näher als auf den anderen Bühnen – und trägt daher am Kinn befestigte Gesichtsvisiere.

Dass die Handlung des Stücks fragmentarisch aus dem Off in Englisch eingesprochen und mit pathetischer Action-Film-Musik unterlegt wird, wirkt allerdings höchst befremdlich angesichts der Sprachmacht des Autors und des ja nicht zudröhnungswürdigen, sondern aktuell zu analysierenden Sujets: wie aus diffusem Unbehagen eine politische Bewegung entsteht.

Donlon stürzt sich auf die explosive Mischung aus Aggression, aufständischem Furor, hasstrunkenen Machtbeziehungen und zarter Empfindung, ruiniert allerdings mit der Darstellung der Revolutionäre im stereotypen Hip-Hop-Streetgang-Style die zentrale Debatte um Freiheit und Revolte, findet aber zu einer enthistorisierenden Romantisierung der tragisch endenden Liebesgeschichte des Stücks. Viele Szenen wären eine physisch prima expressive Variante/Ergänzung des Schauspiels, als eigenständige „Räuber“-Expertise funktioniert der Abend jedoch nicht.

Tanzverbot mit Nebenwirkungen?

Herausragend wie die Bremer Produktion ist hingegen der erste von drei Teilen „Kunstraub“ am Theater Osnabrück. Mauro de Candia choreografiert in einem Museumssaal-Bühnenbild verkrampft vergebliche und eindrucksvoll quälende Versuche seiner Tänzer*innen, aus einem Lichtkreis heraus Kontakt zu den Kolleg*innen aufzunehmen. Ein Vernissagen-Redner windet sich dabei slapstickwürdig um ein Rednerpult, vor einem Bild ringt eine Besucherin um Aufmerksamkeit, vor einem anderen schleicht ein Dieb herum, akrobatisch turnt derweil ein Katalogleser um eine Sitzbank.

Bald schlängelt der Aufseher hilflos eingreifwillig über den Boden. Alle sind auf Abstand gepolt und ihre Bewegungsmöglichkeiten arg reduziert. Halt und Haltung gehen verloren, Körper sinken zusammen. Am Ende liegt das gesamte Ensemble am Boden als würde es verröcheln ohne sein Lebenselixier, die direkt leibhaftige Kommunikation.

Das schimmert als Warnhinweis bei fast allen Choreografien durch: Die allgegenwärtige Distanzierung im Alltag und gleichzeitige Verdrängung öffentlichen Lebens in digitale Medien könnte nicht nur gegen die akute Pandemie nützlich sein, sondern auch nachhaltige Folgen fürs Körperbewusstsein haben.

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