: Achterbahnfahrt in den Wahltabellen
Frühe Führung für Trump, spätes Aufholen von Biden, zunächst kein klarer Sieger, alles hängt an wenigen Bundesstaaten: Die US-Wahlnacht ist noch nicht vorbei, das Zittern geht weiter
Von Bernd Pickert
US-Präsident Donald Trump hatte sich noch am Wahltag siegesgewiss gegeben: Bei einer Rede vor seinen engsten Wahlkampfmitarbeiter*innen in Arlington nahe der Hauptstadt Washington, DC verkündete er, er sehe einem großartigen Sieg entgegen.
Und so sah es in der Wahlnacht zunächst auch aus: Mit Florida und Ohio gingen die beiden Swing States, ohne die in den vergangenen Jahrzehnten kaum je ein Kandidat die notwendigen 270 Stimmen im Electoral College erreicht hatte, an Trump. Die Hoffnungen der Demokrat*innen, womöglich Texas gewinnen zu können, zerschlug sich. In North Carolina und Georgia führte Trump noch zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe, und in Pennsylvania, erklärte Trump bei seiner umstrittenen Ansprache in den frühen Morgenstunden, liege er bereits uneinholbar vorne.
So entstand genau jene Situation, vor der gewarnt worden war, seit Trump vor einigen Monaten begonnen hatte, per Briefwahl abgegebene Stimmen als Betrug zu disqualifizieren. Denn in den nunmehr entscheidenden Bundesstaaten des alten Rust Belt, Wisconsin, Michigan und Pennsylvania, hatten jeweils vor allem Biden-Wähler*innen, die wegen der Coronapandemie besorgter sind als Republikaner*innen, ihre Stimmen per Brief abgegeben. Da dort aber zunächst die von Republikaner*innen am Wahltag selbst abgegebenen Stimmen ausgezählt wurden, erschien auf den Bildschirmen der Fernsehanstalten und in den interaktiven Grafiken der Onlinemedien zunächst überall erschreckend hohe Führungen für Trump, die erneut die Meinungsforscher*innen der Pfuscherei zu überführen schienen. Dann, am Mittwoch früh US-amerikanischer Zeit, drehte sich plötzlich das Bild. Biden lag plötzlich in Wisconsin in Führung, in Michigan schwand Trumps Vorsprung zusehends, während sich gleichzeitig Bidens Führung in Nevada und Arizona festigte.
Hatte es noch verlogen gewirkt, als Biden noch in der Nacht mit gequältem Lächeln seinen Anhänger*innen Mut zugesprochen und sie aufgefordert hatte, den „Glauben“ zu bewahren, schien sein Wahlsieg plötzlich wieder eine reale Option jenseits der reinen Theorie. Denn wenn er Nevada, Arizona, Wisconsin und Michigan gewänne, würde er mit exakt 270 Wahlleuten ins Weiße Haus einziehen – selbst ohne den Gewinn Pennsylvanias. Das Zittern hielt zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe an.
Entschieden war allerdings, dass die Demokrat*innen die Mehrheit im Repräsentantenhaus verteidigen konnten. Ihre Hoffnung allerdings, durch mindestens vier Zugewinne auch eine Mehrheit im Senat erzielen zu können, scheint sich nicht zu erfüllen: Zwar gewannen sie zuvor republikanisch gehaltene Sitze in Colorado und Arizona, gaben aber einen in Alabama ab und konnten ihre Hoffnungen auf weitere „Pick-ups“ nicht erfüllen. Damit hätten sie netto einen Sitz gewonnen und wären nunmehr nur noch 48:52 in der Minderheit. Allerdings war bei Redaktionsschluss nicht ausgeschlossen, dass es auch hier noch durch die späte Zählung demokratischer Briefwahlstimmen zu Veränderungen kommen könnte.
Wer auch immer schlussendlich das Rennen um die Präsidentschaft gewinnt: Keine von beiden Seiten könnte einen „Landslide“, einen Erdrutschsieg, für sich verbuchen, es wäre in jedem Fall ein knapper Sieg, der die extreme Spaltung des Landes einmal mehr verdeutlichte.
Und sollte Trump die Mehrheit im Electoral College gewinnen, so wäre es schon das zweite Mal in Folge, dass derjenige ins Weiße Haus einzieht, der landesweit weniger Stimmen erzielt hat: Im wahltechnisch unbedeutenden „popular vote“, also bei der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen, lag bei Redaktionsschluss Joe Biden mit 2,7 Millionen Stimmen vorne – etwa genauso vielen wie Hillary Clinton vor vier Jahren.
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