Krieg in Äthiopien: Ein Massaker, viele Fragen

Hunderte Zivilisten sollen bei Äthiopiens Offensive gegen die Region Tigray getötet worden sein. Wer hinter den Angriffen steckt, ist bislang unklar.

Flüchtlinge an einem Fluss n der Wüste

Am Grenzfluss zwischen Äthiopien und Sudan stauen sich Fliehende aus Tigray; Aufnahme vom Sonntag Foto: El Tayeb Siddig/reuters

BERLIN taz | „Leichen waren über die gesamte Stadt verstreut“, gibt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Berichte aus der äthiopischen Stadt Mai-Kadra wieder. „Die meisten wurden im Stadtzentrum gefunden, nahe der Commercial Bank of Ethiopia und entlang einer Straße, die zur Nachbarstadt Humera führt (...) Sie wiesen klaffende Wunden auf, die anscheinend mit Stichwaffen wie Messer und Macheten verursacht wurden.“

Mai-Kadra liegt in der äthiopischen Region Tigray, die sich im Krieg mit der äthiopischen Zentralregierung befindet. Die äthio­pische Armee nahm die Stadt am Morgen des 10. November ein. Die von Amnesty wiedergegebenen Berichte stammen von Zeugen, die zusammen mit äthiopischen Soldaten die Leichen einsammelten.

Ihnen zufolge wurde das Massaker von lokalen Milizionären der in Tigray herrschenden Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) verübt, die sich im Aufstand gegen Äthio­piens Regierung von Premierminister Abiy Ahmed befindet, seit sie dort ihre langjährige Vormachtstellung verlor. Die TPLF-treuen Kämpfer hätten rund 500 Menschen getötet, zumeist nicht tigrayische Arbeiter, bevor sie sich in der Nacht zum 10. November aus Mai-­Kadra zurückzog, so offizielle Quellen aus der Amhara-Nachbarregion.

Doch von Tigray-Seite wird das Massaker den vorrückenden äthiopischen Truppen und insbesondere Amhara-Milizionären an ihrer Seite zugeschrieben. Zehntausende Tigray-Zivilisten sind vor der Armeeoffensive auf der Flucht; rund 25.000 haben es über die Grenze nach Sudan geschafft. Manche davon kommen aus Mai-Kadra.

Ein Reuters-Team zitiert eine Flüchtlingsfrau aus der Stadt über den vorrückenden Gegner: „Sie töteten jeden, der sagte, dass er Tigreer sei. Sie stahlen unser Geld, unser Vieh und unser Essen aus unseren Häusern, und wir rannten weg mit nur unserer Kleidung am Körper.“

Tigray beschießt Eritrea mit Raketen

Die Schilderungen deuten darauf hin, dass an den Kämpfen nicht nur reguläre Streitkräfte beteiligt sind, sondern auch die auf ethnischer Basis rekrutierten Polizeikräfte der Regionalregierungen. Aufseiten der äthiopischen Armee sind das nach amtlichen Angaben mehrere tausend Milizionäre der an Tigray angrenzenden Amhara-Region.

Damit gewinnt ein Krieg, der am 4. November als Machtkampf zwischen Zentral- und Regionalregierung begann, eine ethnische Komponente zwischen verfeindeten Volksgruppen und ihren Führern.

Das erklärt auch, warum in Reaktion auf die Berichte über Massaker in Mai-Kadra Tigray Raketen auf Städte in der Amhara-Region abgefeuert hat. Getroffen wurden in der Nacht zu Samstag die Flughäfen der Re­gio­nalhauptstadt Bahir Dar und der Stadt Gondar. Tigray-Regionalpräsident Debretsion Gebremichael hatte zuvor gesagt, jeder Flughafen, der zu Angriffen auf Tigray genutzt werde, sei ein „legitimes Ziel“.

Er erwähnte dabei auch Städte im Nachbarland Eritrea. Am Samstag wurde Beschuss mit Raketen aus Tigray auf Eritrea gemeldet. Sie sollen nahe des Flughafens der Hauptstadt Asmara eingeschlagen sein. Damit hat sich der Krieg um Tigray nach zehn Tagen internationalisiert. Eine Reaktion Eritreas steht noch aus. Die Lage ist explosiv, da in Tigray knapp 100.000 eritreische Flüchtlinge leben, die vor der dortigen Diktatur geflohen sind.

Wer in Tigray selbst die Oberhand hat, ist offen. Am Freitag erklärte Äthiopiens Regierung, die TPLF-Kräfte befänden sich „im Todeskampf“. Die Tigray-Re­gionalregierung erwiderte am Samstag, sie habe dem Gegner „schwere Verluste“ zugefügt. Am Sonntag erklärte Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed, die Offensive in Tigray „verläuft gut“.

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