Wie wir doch noch
die Kurve kriegen

Die Corona-Infektionen in Deutschland sind auf Rekordniveau, auch Gesundheitsminister Spahn ist erkrankt. Doch RKI-Chef Wieler will an der bisherigen Strategie festhalten

Die Grafik zeigt, wo sich Menschen infiziert haben. Sie umfasst aber nur rund ein Viertel der gemeldeten fast 400.000 Fälle. Für die übrigen drei Viertel der Infizierten war der Ansteckungs­ort für die Gesundheitsämter nicht mehr nach­vollziehbar

Von Ingo Arzt
und Daniel Godeck

Deutschland kann die zweite Welle der Coronapandemie rechtzeitig stoppen. Mit dieser Botschaft wandte sich der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, auf einer Online-Pressekonferenz am Donnerstag an die Öffentlichkeit. „Derzeit haben wir noch die Chance, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Wir sind nicht machtlos, wir können etwas bewirken“, sagte er.

Allerdings stellte er seine Aussage unter klare Vorbehalte: Es müssten sich noch mehr Leute an die „AHA plus L“-Regeln halten: Abstand halten, Hygieneregeln wie Händewaschen beachten, Alltagsmaske tragen, viel lüften. „Insgesamt ist die Situation sehr ernst geworden“, sagte Wieler. Er rechne damit, dass sich das Virus weiter und unkontrolliert verbreite.

Am Donnerstag meldete das RKI, dass binnen 24 Stunden 11.287 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden und 30 gestorben sind. Das ist ein trauriger Spitzenwert bei den nachgewiesenen Infektionen, die deutlich höher liegen als im April. Allerdings sind die Zahlen schwer vergleichbar: Heute werden mit 1,2 Millionen Menschen 3-mal so viele Menschen auf das Virus getestet. Bedenklich ist allerdings, dass nun fast 4 Prozent der Getesteten positiv sind – fast eine Vervierfachung in den letzten sechs Wochen.

Zu den Neuinfizierten gehört auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Die Meldung schlug am Mittwochnachmittag im Berliner Regierungsviertel ein wie eine Bombe. Kein Wunder: Erstmals hat sich ein Mitglied der Bundesregierung das Virus eingefangen. Und dann ausgerechnet der Gesundheitsminister, jener Mann also, der qua Amt seit Wochen vor den Gefahren der gegenwärtigen zweiten Pandemiewelle warnt.

Spahn war am Mittwoch mit Erkältungssymptomen getestet worden. Er habe sich sofort in häusliche Quarantäne begeben, erklärte sein Sprecher. Zudem hätten sich Mitarbeiter*innen, die zuletzt eng mit dem Minister zu tun hatten, sofort testen lassen – ihre Tests seien aber negativ ausgefallen. Am Donnerstag erklärte er zudem, dass es Spahn „den Umständen entsprechend gut“ gehe.

Dennoch wirft Spahns Infektion Fragen auf: Ist die Regierung weiter handlungsfähig? Was, wenn sich auch Kanzlerin und weitere MinisterInnen infizieren? Immerhin hatte Spahn am Mittwochmorgen noch selbst an der wöchentlichen Kabinettssitzung im Kanzleramt teilgenommen.

Ein Regierungssprecher bemühte sich, Spekulationen sofort einzufangen. Die Kabinettssitzung sei unter Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln abgelaufen. In seinem Ministerium wird Spahn nun vorerst durch seinen Staatssekretär Thomas Steffen vertreten.

Dennoch gingen einzelne MinisterInnen auf Nummer sicher und ließen sich vorsorglich testen. Familienministerin Franziska Giffey etwa – sie war am Freitag noch gemeinsam mit Spahn bei einer Pressekonferenz aufgetreten. Das erste Ergebnis ihres Schnelltests: negativ. Auch bei Innenminister Horst Seehofer war das Resultat negativ.

Kabinettsmitglieder in (vorsorglicher) Quarantäne, das kommt immer wieder vor. Den Anfang machte im Frühjahr die Kanzlerin selbst, als ihr Arzt positiv getestet wurde. Ihren Amtsgeschäften konnte sie aber aus ihrer Berliner Wohnung weiter nachgehen, auch ihre Tests fielen negativ aus. Außenminister Heiko Maas und Wirtschaftsminister Peter Altmaier waren neulich ebenfalls vorsichtshalber in Selbstisolation. Seit einigen Tagen ist auch Arbeitsminister Hubertus Heil vorbeugend in Quarantäne – dessen Corona-App hatte eine Warnung gesendet.

Eine weitere Frage, die Spahns Infektion aufwirft: Werden die Regierungsmitglieder regelmäßig genug getestet? Augenscheinlich ist das nicht mal bei der Kanzlerin der Fall. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach forderte am Donnerstag in der Rheinischen Post regelmäßige Tests für Kabinettsmitglieder − und das „möglichst alle zwei bis drei Tage“.

„Ein Großteil der Menschen steckt sich im privaten Umfeld an“

Lothar Wieler, RKI-Präsident

Aber nicht nur für hochrangige PolitikerInnen wird gesorgt. Auch für normale BürgerInnen gibt es in Deutschland derzeit noch genug Kapazitäten im Gesundheitssystem. Aktuell leiden bundesweit 1.030 von insgesamt 21.473 Intensivpatient*innen an einem schweren Verlauf von Covid-19. 8.184 Intensivbetten sind aber noch frei.

Wo sie sich laut Erhebung der Gesundheitsämter anstecken, dazu wird das RKI von nun an jeden Dienstag eine aktualisierte Übersicht veröffentlichen (siehe Grafik). Obwohl in 75 Prozent der Fälle die Gesundheits­ämter den Ort der Infektion nicht mehr nachvollziehen konnten, gibt es eine klare Aussage: „Ein Großteil der Menschen steckt sich im privaten Umfeld an“, sagte Wieler. Hotelübernachtungen, öffentlicher Nahverkehr oder auch Schulen spielten bisher eine untergeordnete Rolle – auch wenn sich in Schulen künftig mehr Menschen infizieren könnten, weil insgesamt die Fallzahlen steigen.

Das RKI sieht explizit keinen Anlass zu einem Strategiewechsel. Es habe sich bewährt, dass Gesundheitsämter versuchten, Infektionen einzudämmen und Infizierte zu isolieren. Gleichzeitig müssten weiterhin gefährdete Gruppen geschützt, Therapien gegen Covid-19 verbessert und mehr Kapazitäten für Behandlungen aufgebaut werden, so Wieler.

Er widersprach damit dem ­Virologen Hendrik Streeck, der am Mittwoch im Sender ntv davor gewarnt hatte, dass es für die Gesundheitsämter nicht mehr wie bisher möglich sei, Kontakte von Infizierten nachzuvollziehen. Vor diesem Hintergrund sei es umso wichtiger, Risikogruppen zu schützen, argumentierte Streeck. Immer mehr Kreise melden mittlerweile überlastete Gesundheitsämter.

Eine solche neue Priorisierung der Maßnahmen lehnt Wieler dagegen ab: Jede Anstrengung, die die Gesundheitsämter unternähmen, Ansteckungsketten aufzudecken, reduziere die Ausbreitung des Virus.