Die Linke in Nordrhein-Westfalen: Die Ratlosen

Die Linkspartei in NRW sucht nach dem Desaster bei den Kommunalwahlen nach Halt. Die neu gewählte Parteispitze will den internen Zoff beenden.

Ko-Chef Christian Leye sitzt mit gefalteten Händen und schaut nachdenklich

Die Stimmung ist so, wie er dreinschaut: Ko-Chef Christian Leye Foto: Soeren Stache/dpa

Inge Höger, 69, scheidende Landeschefin der Linkspartei in NRW, steht am Rednerpult vor rund 221 Delegieren ihrer Partei und sucht nach Worten. Eigentlich wäre sie am liebsten gar nicht auf diesem Parteitag in Münster, sagt sie am Samstag, sondern in Garzweiler, wo AktivistInnen gegen Kohleabbau protestieren. Lieber Bewegung als Partei – ein ungewöhnlicher Satz für eine Parteivorsitzende. „Ich hab's nicht geschafft, ich gehe zurück an die Basis. Tschüss“, sagt Höger am Ende knapp. Es ist ein unsouveräner Abgang der Parteilinken, die zur in NRW einflussreichen Antikapitalistischen Linken (AKL) gehört. Der Applaus ist spärlich.

Bei den Kommunalwahlen vor zwei Wochen haben die GenossInnen nur 3,8 Prozent geholt, ein Prozent weniger als vor sechs Jahren. Bei den Jüngeren, wo die Linke traditionell eher stark ist, wählten nur 6 Prozent die Linke – sogar die FDP war mit 10 Prozent erfolgreicher. „Eine Katastrophe“, kommentierte ein Spitzengenosse in Berlin. Höger hatte vor dem Parteitag in einem Brief an alle 8.800 Parteimitglieder ihren Ko-Chef Christian Leye (38) für die Niederlage verantwortlich gemacht. Dieser habe ihre Arbeit „sabotiert“.

Der Brief, poltert ein Basisgenosse in Münster am Mikrofon, „war unter aller Sau“. Leye, der als Mitarbeiter von Sahra Wagenknecht in Düsseldorf sein Geld verdient, sprach von einer „Schmutzkampagne“, die der gesamten Partei geschadet habe.

Eine derbe Wahlniederlage, ein Führungsduo, das nicht in der Lage ist, einen Leitantrag zum Parteitag einzubringen, Schmutzkampagne versus Sabotage – die Linkspartei in NRW, der mitgliederstärkste Landesverband und Hochburg des linken Flügels, steckt in einer tiefen Krise. In landesweiten Umfragen rangiert sie unter fünf Prozent. Das Debakel bei den Kommunalwahlen wirft eine existentielle Frage auf: Wer braucht die Linkspartei eigentlich?

„In einer Zangensituation“

Hans Decruppe, 67, Vizevorsitzender, hat ein Bild gefunden, um die Situation der Partei zu beschreiben. „Wir sind in einer Zangenbewegung“. Decruppe hat eine Wahlanalyse erarbeitet. Das Resümee: „Im kritischen, linksbürgerlichen Spektrum und in „alternativen“ Milieus'“ werde man „von Grünen und den Kleinparteien Volt und Die Partei angegriffen.“ Auf der anderen Seite verliere man die Bindung zu den Abgehängten. „In prekären Wählerschichten – den Adressaten linker sozialer Politik – gibt es seit Jahren deutliche Verluste an Zustimmung“. Daher sei die Partei in einer Zangensituation.

Früher wollten die GenossInnen mal kühn sozialdemokratische Kernmilieus erobern. Jetzt versucht man, Spaßparteien auf Distanz zu halten. Die Lösung? Unklar. Die Unfähigkeit, auseinander strebende Milieus zu verbinden, ist eigentlich ein klassisches Problem von Volksparteien in der Ära ihre Niedergangs. Die Linkspartei in NRW leidet unter Verfallserscheinungen einer Volkspartei, ohne entfernt etwas Ähnliches zu sein.

Wenig gesellschaftliche Verankerung

Gerade in Coronazeiten wollten die BürgerInnen Schutz vor Arbeitslosigkeit und ein funktionsfähiges Gesundheitssystem, sagt Decruppe, der zum Wagenknecht-Flügel in der Partei gehört. „Bei dem, was die Menschen bedrückt, haben wir keine Kompetenz“, lautet sein Fazit.

Ähnlich selbstkritisch sehen es viele beim Parteitag in Münster. Britta Pietsch, eine von vier Parteivizes, seufzt: „Wir erzählen uns seit zehn Jahren, dass wir uns in der Gesellschaft verankert wollen.“ Doch es bleibe beim Appell. „Wir müssen in die Karnevalsvereine eintreten“, findet die Rheinländerin Pietsch. Gunhild Böth aus Wuppertal bezweifelt, dass die Linkspartei für die sozial Abgehängten, die sie doch vertreten will, nützlich ist. „Wir haben konkret nichts erreicht – keinen Spielplatz, kein Stadtteilzentrum.“ Stattdessen zerlege sich die Partei über die Frage, ob der Öko-Umbau Green New Deal heißen dürfe oder nicht.

Gespalten in zwei Gruppen

Es herrscht Ratlosigkeit. Parteichef Christian Leye verweist auf den „Bundestrend, der nicht auf unserer Seite war“. Aber so richtig trösten kann das nicht. Leye, der mit bescheidenen 60 Prozent wiedergewählt wird, rät: „Wir müssen aggressiver gegen die Grünen auftreten“. Der traditionell linke Landesverband ist in zwei Gruppen gespalten, die sich das Schwarze unter dem Fingernagel nicht gönnen. Leye, die Strömung Sozialistische Linke (SL) und eher pragmatische Bundestagsabgeordnete wie der Kölner Matthias W. Birkwald und der Bielefelder Friedrich Straetmanns setzen auf die Arbeit in Parlamenten, Gewerkschaftsnähe und das Soziale.

Die AKL betont hingegen radikale Rhetorik, Skepsis gegenüber Parlamenten und Nähe zu Bewegungen wie Ende Gelände. Ein AKL-Antrag in Münster fordert die „zügige Vergesellschaftung und Verstaatlichung von Erziehung und Bildung, Wohnen, Kultur und Sport“. Kultur und Sport verstaatlichen – das riecht streng nach DDR. Außerdem sollen, so der AKL-Antrag, GenossInnen in Kreistagen und Stadträten nach acht Jahren auf ihr Mandat verzichten.

Das mutet angesichts des in der Provinz raren Personals und nach einer verlorenen Kommunalwahl wie eine autoaggressive Idee an. „Wenn dieser Antrag angenommen wird“, warnt ein pragmatischer Basis-Genosse, „werden wir zur Sekte“. 108 Delegierte stimmen gegen den AKL-Antrag, 79 dafür, 28 enthalten sich.

Flügelübergreifender Neustart

Wohl auch wegen Högers egozentrischen Abgangs, der auch im eigenen Lager nicht gut ankam, ist die AKL, die zwischen Rhein und Ruhr lange den Ton angab, in der Minderheit. Zu Högers Nachfolgerin wird mit 68 Prozent die Mülheimerin Nina Eumann (55) gewählt. Die Steuerfachwirtin ist skeptisch gegenüber Regierungsbeteiligungen und will, wie Höger, vor allem die „Anliegen der sozialen Bewegungen ins Parlament bringen“, aber hat keinen polarisierenden Stil. Eumann und Leye streben einen flügelübergreifenden Neustart an. Versöhnen statt spalten.

Bei den NRW-Linken scheint somit nun ein buntes Bündnis von SL, Wagenknecht-Anhängern, Teilen von der trotzkistischen Marx 21 und Moderaten das Sagen zu haben. „Die destruktiven Kräfte in der AKL sind isoliert“, urteilt ein Pragmatiker. Der Parteitag in Münster deute eine ebenso langsame wie fragile Bewegung in Richtung Vernunft an.

Viel Ratlosigkeit

Das zeigt am Samstagabend die Wahl des neuen Landesgeschäftsführers. Lukas Schön, der im Büro des pragmatischen Bundestagsabgeordneten Matthias Birkwald arbeitet, tritt gegen Fabian Stoffel an, ein eloquenter Redner aus dem Umkreis von Inge Höger. Beide Seiten stilisierten die Wahl vorab zu einer Richtungsentscheidung. Schön gewinnt mit 65 Prozent.

Doch als um kurz nach 20 Uhr das Ergebnis verkündet wird, ist der Saal fast leer. Die GenossInnen sind, nach neun Stunden Parteitag und viel Ratlosigkeit, schon auf dem Weg zum Abendessen.

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