Coronavirus in Brüssel: EU-Kapitale wird zum Hotspot
Im März hatte das Europaparlament wegen der kritischen Coronalage alle Sitzungen in Straßburg abgesagt. Nun meldet Brüssel schlechtere Zahlen.
Das liegt nicht nur an der drückenden Hitze, die mit bis zu 35 Grad jede Aktivität erstickt. Es liegt auch an der Maskenpflicht, die seit Mittwoch gilt. Weil die Zahl der Corona-Neuinfektionen die kritische Schwelle von 50 pro 100.000 Einwohnern überschritten hat, ordnete Ministerpräsident Rudi Vervoort die flächendeckende Verhüllung an.
Der Mund-Nasen-Schutz muss nun nicht nur in Problemvierteln wie Molenbeek angelegt werden, sondern auch auf der Avenue Louise oder im Europaviertel. EU-Beamte und Diplomaten dürfen nur noch vermummt zur Arbeit kommen, auch nach Feierabend gilt die neue Regel. Wenn das so weitergehe, müsse die EU bald auf andere Standorte ausweichen, witzelt ein Journalist aus Frankreich.
Die ironische Bemerkung hat einen ernsten Hintergrund. Im März hatte das Europaparlament alle Sitzungen in Straßburg abgesagt, weil die Coronalage dort allzu kritisch geworden war. Nun meldet Brüssel schlechtere Zahlen als Straßburg. Die EU-Kapitale ist zum Corona-Hotspot geworden – die Maskenpflicht ist nur der letzte Beweis.
Experte: „Wir schießen mit Kanonen auf Spatzen“
Dabei ist der Mehrwert der Maske im Freien umstritten. Bisher liegen keine Beweise für erhöhte Ansteckungsraten auf Straßen und Plätzen vor. Die meisten Neuinfektionen gehen auf allzu enge Begegnungen in Innenräumen zurück – etwa bei Hochzeiten oder auf Familienfeiern. „Das geht zu weit“, sagt der Epidemiologe Yves Coppieters. Das bisherige Maskengebot für Einkaufszonen habe völlig ausgereicht, meint der belgische Experte. Es sei fraglich, ob nun tatsächlich mehr Menschen die ungeliebte Maske anlegen. „Wir schießen mit Kanonen auf Spatzen“, meint auch Jean-Luc Gal von der Universität Leuven. Es fehle die wissenschaftliche Begründung, kritisiert er.
Zwar ist klar, dass Brüssel handeln musste. Denn mittlerweile steigt nicht nur die Zahl der Infektionen. Es gibt auch wieder mehr Todesopfer – wie schon im Frühjahr, als Belgien eine der höchsten Quoten weltweit meldete. Die Maskenpflicht dürfte daran jedoch wenig ändern, Belgien hätte anders und früher reagieren müssen.
Die „zweite Welle“ begann nämlich schon Mitte Juli, und sie konzentrierte sich zunächst auf die Hafenstadt Antwerpen. Dort hätte die Regierung durchgreifen müssen, meinen viele frustrierte Bürger in Brüssel. Doch dies habe man nicht gewagt – denn Antwerpen wird von Bart de Wever geführt, dem mächtigen Chef der flämischen N-VA. De Wever und seine rechtspopulistische Partei werden bei der Regierungsbildung gebraucht, die sich seit einem Jahr ergebnislos dahinschleppt. Seine starke Stellung habe der Bürgermeister Antwerpens genutzt, um von den eigenen Problemen abzulenken – und wirksame Coronamaßnahmen zu verschleppen, schimpfen Brüsseler und Wallonen.
Doch auch die EU hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. So hat die EU-Kommission die steigenden Corona-Fallzahlen lange ignoriert. Dabei kamen sie nicht nur aus Brüssel, sondern auch aus Barcelona, Athen und Luxemburg. Auch die zunehmenden Reisewarnungen und -beschränkungen, die für Chaos sorgen, waren für die Kommission kein Thema.
Konkrete Handlungsempfehlungen sucht man vergebens
Erst Anfang dieser Woche (am 10. August) konstatierte die für COVID-19 zuständige EU-Agentur ECDC einen „Wiederanstieg der Fälle“. Da war es in manchen Regionen wie Brüssel schon zu spät. Zudem fallen die Empfehlungen vage aus. Die EU-Experten sprechen von „vielfältigen Maßnahmen, wie Social Distancing und Contact Tracing“.
Konkrete Handlungsempfehlungen sucht man vergebens. Nur die Warnung ist unmissverständlich. Für jene EU-Länder, die aktiv gegen COVID-19 kämpfen, sei das Risiko moderat, so die Experten. Wer nicht energisch gegensteuere, setze sich hingegen einem „sehr hohen Risiko“ aus.
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