Studie zum Rückgang von Populismus: Die Bilder trügen
Die Botschaft der Bertelsmannstudie ist eindeutig: Die Bundestagswahl 2021 wird im Ringen um die Mitte entschieden, die gemäßigte Angebote schätzt.
A ls Zehntausende gegen das vermeintliche Coronaregime demonstrierten beugten sich PolitikerInnen, SozialwissenschaftlerInnen und KommentatorInnen ratlos und besorgt über diese unberechenbare Melange von Rechtsextremisten, libertären Staatsskeptikern, Exalternativen und Esoterikern. Manche sehen eine neue Pegida-Bewegung entstehen, eine Frischzellenkur für den Rechtspopulismus. Die Mitte, magischer Ort und zentraler Pfeiler der bundesdeutschen Demokratie, so die Befürchtung, driftet wie nach 2015 gefährlich ins Rechtsautoritäre ab.
Die Populismus-Studie von Bertelsmann und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zeigt ein anderes Bild. Populistische Einstellungen, Demokratieskepsis, Elitenfeindlichkeit und Neigung zu autoritären Lösungen, sind auf dem Rückzug. Das ist in der Coronakrise, in der die Regierungen fast überall Vertrauen gewinnen, auch wenig überraschend. Doch dieser Trend begann viel früher. Corona war der Verstärker, nicht der Grund.
Die politische Mitte um Union und FDP steht zu Recht im Verdacht, in Krisen anfällig für rechte Muster zu sein. Die Studie zeigt, dass der Populismus zwar auch bei Linkspartei- und SPD-Klientel auf dem Rückzug ist – doch ganz besonders auffällig ist dies in der Anhängerschaft von Union und Liberalen. Das ist, bei aller Vorsicht, eine gute Nachricht: Die zivile Substanz ist größer als vermutet. Das zeigt, dass wir auf Bilder wie das vom „Sturm auf den Reichstag“ misstrauischer schauen sollten und generell den Suggestionen der Aufmerksamkeitsökonomie, die auf Ereignisse scharf gestellt und für Strukturen blind ist, mit mehr Vorsicht begegnen sollten.
Dass einfache Lösungen 2020 demnach eher unattraktiv erscheinen, ist direkt mit der Deaktualisierung eines Themas verkoppelt: Migration und Geflüchtete. Das ist doppelt deutbar. Pessimistisch kann man es als Zeichen lesen, wie die übersteigerte Angst vor den Flüchtlingen das kollektive Bewusstsein nach rechts verschoben hat, optimistisch als Zeichen, dass der Rechtspopulismus ohne diesen Trigger enorm an Anziehungskraft verliert.
Politisch ist die Botschaft dieser Studie eindeutig: Die Bundestagswahl 2021 wird, wenn sich dieser Trend fortsetzt, im Ringen um die Mitte entschieden, die gemäßigte Angebote schätzt, wenig empfänglich für nationalistische Muster und solide offen für Europa ist.
Für die Linkspartei, die immer mal wieder mit populistischen Bildern flirtet, hat die Studie eine ambivalente Aussage. Grobe, populistische Anti-Botschaften zünden auch in ihrer Klientel nicht mehr so richtig. Dafür ergibt sich eine neue Chance. Weil Migration als Identitätsmarker verblasst, kehre das Soziale, vor allem Wohnungspolitik „als Aufregerthema“ zurück, so die Studie. Das ist, für das linke Parteienspektrum und für den rationalen Diskurs, eine erfreuliche Aussicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag