Gereon Asmuth über die Proteste am Reichstagsgebäude
: Den Schlagstock im Gürtel lassen

Wo, ja wo bleibt eigentlich der Wasserwerfer? Und warum greift die Polizei da nicht durch? So wie sie es bei linken Demos auch macht? Mit aller Gewalt der Staatsgewalt? Angesichts der massiven Verstöße gegen Demonstra­tions­auflagen bei dem Aufmarsch der Coro­na­leugner:innen drängen sich Fragen geradezu auf – und sie wurden am Rande der Proteste, in Gesprächen und den omnipräsenten sozialen Medien gerade auch in der gesellschaftlichen Linken vielfach gestellt.

Das ist mehr als verständlich. Und dennoch komplett daneben. Diese linke Sehnsucht nach einem starken Staat muss einem fast schon so viele Sorgen machen wie das unerträgliche und weiter wachsende Protestgemisch aus Coronaskeptikern, Reichsbürgern, staatskritischen Esoterikern und anderen Hippies. Denn zweifelsohne ist Kritik an überzogenen, überharten und übergriffigen Einsätzen von Polizei gegen linke Proteste angebracht und leider immer wieder notwendig. Gerade deshalb aber verbietet sich jeder Wunsch nach mehr legaler Polizeigewalt, so verlockend er auf den ersten Blick auch sein mag.

Zudem muss man den Schlagstock auch mal im Gürtel lassen. Und dafür genau hinsehen. So hat die Berliner Polizei auch am Samstag ihre Wasserwerfer aufgefahren – als Drohgebärde. Tatsächlich zum Einsatz kamen sie aber nicht – was übrigens fast schon eine Tradition der Hauptstadtpolizei ist. Sie hat ihre Luxuswasserpistolen schon seit mehr als zehn Jahren allenfalls zum Gießen hitzedarbender Bäume eingesetzt. Mit der Bewässerung von De­mons­tran­t:innen aber, egal ob sie von rechts oder links kommen, halten sich die Berliner Ordnungshüter, anders als ihre Kolleg:innen in anderen Bundesländern, sehr zurück. Und das ist gut so.

Auch mit Kritik an dem Fakt, dass sich die Polizei vor dem Reichstagsgebäude von den offen rechten Treppenfans hat überrennen lassen, sollte man zurückhaltend sein. Denn sie impliziert die Forderung nach Aufrüstung der Sicherheitskräfte, die aus linker Sicht niemand ernsthaft wollen kann.

Das Umgehen von Polizeiketten gehörte schon immer zum Standard sämtlicher Bewegungen – auch und gerade bei Protesten von links. Mit der einst von Anti-Atom-Aktivist:innen ersonnenen Fünffingertaktik, mit der in mehrere Kleingruppen aufgesplittete De­mons­trant:innen Polizeiketten umfließen, wurde sie sogar zu einer zen­tralen Aktionsform – zuletzt vor allem bei den Anti-Kohle-Demonstrationen von Ende Gelände. Dass die Polizei bei Protesten – ob in einer Braunkohlegrube oder am Gatter vor dem Bundestag – eben keine absolut unüberwindliche Macht darstellt, ist ein gutes Zeichen für den Zustand der Demokratie dieser Republik. Gerade bei einem Einsatz im Schatten des Parlaments muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Denn was ist tatsächlich passiert? Ein paar Hundert Menschen sind eine Treppe hinaufgelaufen. Und, ja, mit wegen ihrer Symbolkraft unerträglichen Fahnen. Mehr aber auch nicht. Die Möchtegernumstürzler haben sich dann sogar von nur drei Beamten stoppen lassen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Übermütigen dem Hohen Haus am Ende gar noch Respekt erwiesen haben. Ein revolutionärer Akt, der einem so sehr Sorgen machen müsste, dass man mit Gewalt dagegen vorgehen muss, sieht jedenfalls anders aus.

Linkes Nachdenken über die Ereignisse am Samstag sollte daher weniger das Verhalten der Polizei in den Fokus stellen als die eigene Erfahrung mit Protesten. Da wird schnell klar: Solche Momente wie der Treppenwitz vor dem Bundestag sind für jede Bewegung sinnstiftend. Ihre Bedeutung geht weit über den Moment hinaus – nach außen, vor allem aber nach innen. So entstehen Mythen, aus denen jede Bewegung Kraft schöpft. Sie setzen Energien frei, so sehr, dass die Aktivist:innen ihre Bedeutung vollkommen überschätzen.

Wie aber soll man damit von links umgehen? Bei Pegida, AfD-Demos und sonstigen rechtsextremen Aufzügen hat die linke Öffentlichkeit lange auf Gegenprotest vor Ort gesetzt, um dem Größenwahn der Rechten etwas entgegenzustellen, ihn zu relativieren. Schließlich wurde mit der Unteilbar-Demo im Herbst 2018 ein unübersehbares Zeichen gesetzt – gerade weil es keine Gegendemo war, kein Versuch, etwas zu verhindern, sondern ein eigens gesetzter Aufstand der Zivilgesellschaft gegen den rechten Rand.

Etwas Ähnliches wäre genau jetzt wieder dringend nötig. Das Potenzial ist ja durchaus gegeben. Umfragen zeigen, dass der weitaus größte Teil der Bun­des­bürger:innen die wegen der Pandemie erlassenen Beschränkungen wie Masken- und Abstandsgebote für angemessen hält – oder sogar für zu lasch. Doch eine Massendemonstration für die Akzeptanz von Schutzmaßnahmen gegen Corona? Das wäre geradezu absurd. Das macht ratlos. Wirklich ratlos.

Aber kann diese Ratlosigkeit ein Argument dafür sein, nach mehr Staatsgewalt zu rufen?