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Tage des Zorns

Nach Massenprotesten in Beirut schlägt Libanons Ministerpräsident Hassan Diab Neuwahlen vor. Bis der Modus dafür klar ist, will er im Amt bleiben

Mittelfinger für die Sicherheitskräfte. Beirut am Samstag Foto: Joseph Eid/afp

Aus Beirut Julia Neumann

Aus Holz und Stricken haben die Protestierenden Henkerschlingen gebastelt und auf den Märtyrerplatz in der Beiruter Innenstadt gestellt. Eine junge Frau hält ein Schild mit der Aufschrift „Unserer Regierung tötet“ in die Höhe. Tausende Libanes*innen forderten am Samstagmittag den „Niedergang des Regimes“ und Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion.

Am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Lagerhaus am Hafen in Beirut. 150 Menschen wurden getötet, über 6.000 verletzt, rund 250.000 Menschen verloren ihr Zuhause. Präsident Michel Aoun sagte am Sonntag, eine internationale Untersuchung der Detonation wäre „Zeitverschwendung.“ Der Stoff war nach bisheriger Erkenntnis sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen in dem Hafenlager verblieben, obwohl der Zoll, das Militär, Sicherheitsbehörden und die Justiz auf dessen Gefahren hingewiesen hatten. Doch es geschah nichts.

Deshalb überwiegen Wut und Zorn über die Unfähigkeit der Politike­r*in­nen, die Menschen vor dem ab­sehbaren Unglück rechtzeitig zu bewahren.

Am Samstag besetzten die Protestierenden das Energie- und das Wirtschaftsministerium und legten Feuer am Sitz des Bankenverbands. Ein Polizist kam ums Leben, als er in einem Hotel festsitzenden Menschen half und dann von einer Menschenmenge angegriffen wurde und tödlich gestürzt sei, erklärte die libanesische Polizei. Über 700 Menschen wurden verletzt, teilten das Rote Kreuz und der Islamische Hilfskorps mit.

Die Polizei setzte Tränengas auf dem gesamten Platz ein, Aktivist*innen filmten, wie das Militär mit Stöcken auf Protestierende einschlug. Ein ­Anwaltskomitee zur Verteidigung der Demonstrant*innen dokumentierte die Verhaftung von 20 Personen. Feuerwehrleute wurden gerufen, um mit Wasser gegen die Proteste vorzugehen – doch sie weigerten sich.

Die Menschen, die nun Schippen und Schaufeln in die Hand nehmen, um die Straßen und Wohnungen aufzuräumen, sind wütend auf die Regierung, deren Militär und Polizei untätig danebenstehen. „Wir müssen beides reparieren, unsere Häuser und das System“, hieß es in einer Whatsapp-Gruppe, die Hilfsmaßnahmen koordiniert. Viele hatten noch Besen in der Hand, als sie auf dem zentralen Platz in Beiruts Innenstadt ihre Politiker für die Katastrophe verantwortlich machten.

Elena Saade steht mit weißem Kittel und grüner Hose auf dem Märtyrerplatz. Die 25-Jährige arbeitet als Anästhesistin im Krankenhaus und hätte eigentlich Dienst gehabt. „Mein Chef hat gesagt: Die Patienten brauchen dich jetzt [auf der Straße], nicht hier“, erzählte sie, während ihr Tränengas in die Augen steigt. „Was wir am 4. August in den Krankenhäusern erlebt haben, hat uns allen zu verstehen gegeben, wie wichtig es ist, auf die Straßen zu gehen“, sagt sie, bevor das Interview wegen des vielen Tränengases abgebrochen werden muss.

Die Demonstrierenden sehen ihre Anstrengungen als Fortführung der Massenproteste, die am 17. Oktober 2019 begonnen hatten. Bereits damals verlangten die Menschen den Rücktritt ihrer Regierung, deren Korruption und Misswirtschaft das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt habe. Auch wenn am 29. Oktober der ehemalige Regierungschef Saad Ha­riri und sein Kabinett zurückgetreten sind: Viele Libanes*innen sind unzufrieden mit seinem Nachfolger Hassan Diab. Dessen Kabinett besteht zwar aus Technokrat*innen, ist jedoch mit der alten Elite verbandelt und wird vor allem von der irannahen schiitischen Hisbollah und ihren Verbündeten unterstützt.

Eine wichtige Forderung der Revolutionsbewegung blieben unabhängige Neuwahlen und eine Änderung des komplizierten Wahlrechts. Dieses verteilt die Sitze im Parlament nach Proporz, jede konfessionell geprägte Partei bekommt einen bestimmten Anteil. Das soll Stabilität und Frieden in dem Land gewähren, in dem 18 anerkannte Religionsgemeinschaften leben. Es führte aber auch zu einem klientelistischen System.

„Nichts wird die Leute beruhigen, außer die Politiker so leiden zu sehen, wie wir leiden.“

Marwa, 24, Demonstrantin

„Manche Menschen unterstützen ihre Parteien noch, weil sie hungrig sind. Sie werden [für Wahlen] gekauft, mit 10, 15 US-Dollar“, sagt die 24-Jährige Marwa, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. „Die Armut steigt jeden Tag, die Menschen brauchen jedes einzelne Pfund. Aber glaub mir, die meisten haben es so satt. Uns blutet das Herz, sie nehmen alles von uns, sogar unsere Leben.“

Als Reaktion auf den Protest reichte Informationsministerin Manal Abdel Samad ihr Rücktrittsgesuch ein. Sie sagte, sie trete aus Respekt vor den ­Verletzten, den Getöteten und den nach der Explosion Vermissten zurück und „als Antwort auf die Forderung der Menschen nach einem Wandel“.

Regierungschef Diab sagte, er schlage dem Parlament am Montag Neuwahlen vor. Diab gab den politischen Parteien zwei Monate, um sich über die nächsten Schritte einig zu werden und Reformen zu verabschieden, die das Land aus der Wirtschaftskrise bringen sollen. In dieser Zeit wolle er als Regierungschef im Amt bleiben.

„Nichts wird den Zorn der Leute besänftigen“, sagt Marwa dazu am Telefon. „Die Leute haben ihre Kinder, verloren, ihre Geschwister. Mein Cousin musste wegen der Explosion an beiden Händen operiert werden. Nichts wird die Leute beruhigen, außer die Politiker so leiden zu sehen, wie wir leiden.“ Neuwahlen sieht sie nicht als Wandel. „Die Lösung ist, von all den schlechten Menschen in der Regierung loszukommen. Aber das braucht Jahre.“